Berlins letzte Ruine

Seinet­wegen könnte die ganze Fabrik gerne abgerissen werden. Oder gesprengt werden. Er stellt sich vor, wie die Ratten explo­dieren.

Letztes Abend­licht. Das Dach der Berliner Eisfabrik. Geräusch einer Spraydose, dieses Zischen des Ventils, wenn man auf den Sprühkopf drückt. Man kann den Fernseh­turm sehen und die Dachpappe riechen. Für einen Moment lang hat man das Gefühl, Berlin wäre noch so wie es vor zehn Jahren war. Ein Mädchen mit sehr langen Haaren lässt sich nah der Dachkante fotogra­fieren. „Geil“, sagt ein Junge, der direkt neben uns lagert. „Das is noch Berlin. Das letzte Reservat“.

Tatsäch­lich ist die verlas­sene Fabrik in der Köpeni­cker Straße eine der letzten ihrer Art. Ein Ziegel­ge­bäude mit einem imposanten Schorn­stein, in dem 100 Jahre lang Eis für Kühlschränke herge­stellt wurde. Bis im Jahr 1995 der Betrieb still­stand wie in allen Indus­trie­ge­bäuden zwischen Fischer­insel und Oberbaum­brücke. Den Spree­strand eroberten die Strand­bars und Party­lo­ca­tions, die in aller Welt bekannt wurden wie die Weltzeituhr oder das Wannseebad. Besonders ist nur, dass die großen Ferien inzwi­schen vorbei sind: Berlins Brachen wurden fast alle beräumt und saniert – nur die Eisfabrik ist noch da. Weil zwei Eigen­tümer sich nicht einig werden, was mit dem Gelände passieren soll, passiert nichts. Dass hier noch der Knöterich wächst, hat sich wie ein Lauffeuer herum­ge­spro­chen. In England und Spanien kennen junge Leute die Eisfabrik. Wer Berlin­ruine will, reist hier her.

Und schon deshalb ist nichts wie es war, und nichts ist gut. Denn wenn sich alle, die eine Nische suchen, an ein und derselben Stelle versam­meln, klappt das nicht so richtig. Und so kommt es, dass die Sprayer, die gerade den Schorn­stein neu gestalten, aufpassen müssen, sich nicht gegen­seitig vom Dach zu schubsen. Einer mit Rasta­haaren, der unentwegt etwas in eine uralte gelbe Schreib­ma­schine tippt, hat seine Bastmatte an der aller­äu­ßersten Dachkante ausge­rollt und versucht, entrückt zu gucken. Derweilen entert eine Gruppe in Holzfäl­ler­hemden und Chucks das Dach. Sie disku­tieren lauthals und trollen sich dann gleich wieder. „Nicht cool, total verdreckt“ erklärt einer von ihnen. Ein blasses Mädchen, das aus Neapel kommt, sagt, noch nie in ihrem Leben hätte sie so viel Müll gesehen. Tatsäch­lich liegen hier Sektfla­schen, Weinfla­schen, und Pappen von Sixpack­trä­gern kniehoch. „Außerdem stinkt es widerlich“, sagt das Mädchen, das Helena heißt. Und sie hat Recht.

Als wir den Treppen­schacht hinab­steigen, stinkt es, als hätte eine ganze Lovepa­rade einen Monat lang in ein und dieselbe Ecke gepisst. Es ist duster, wir leuchten mit Handies. Eine Ratte flüchtet. Das Treppen­haus führt auf einen Flur, der in einen Licht­schacht blickt. Hinter den Fenstern, die keine Scheiben mehr haben, kann man hier und da Feuer brennen sehen. Helena, sagt, dass das die Feuer der Obdach­losen seien. Die wären es auch, die ins Treppen­haus kackten, und die verant­wort­lich wären für den ganzen Müll und die Ratten.

Wir nähern uns einem der Feuer, denken an Sachen, die wir aus dem Fernsehen kennen, durch­queren eine Halle und treffen auf drei Männer und eine Frau, die um einen Klapp­tisch herum sitzen. Das Feuer brennt in einem Camping­grill. Zwei der Männer stellen sich als Albert und Konstantin vor. Sie wohnen hier, ja natürlich. Ob wir stören? Nein. Sie seien es schon gewohnt, Besuch zu kriegen. Hier käme dauernd irgendwer vorbei. Sprayer, die fast täglich neue Bilder sprühen. Die ganzen jungen Leute von überall her, die von allem Fotos machen. Im Grunde störte das nicht. Nur in der Nacht sei es manchmal laut. Sie wollten schlafen, die jungen Leute feierten. Und öfter mal pinkelten welche von denen im Suff ins Treppen­haus.

Albert und Konstantin kommen aus Dobritsch, einer Stadt in Bulgarien. Sie sind Roma mit türki­schen Wurzeln – eine ganze Gruppe. Die meisten von ihnen, erzählt Konstantin, leben schon seit ein paar Jahren in Berlin. Noch im letzten Jahr hätten sie in verschie­denen Gebäuden rund um den Ostbahnhof gewohnt. Bis eins saniert und ein anderes abgerissen wurde. Deshalb seien im letzten Herbst die ersten von ihnen in die Eisfabrik gekommen, hätten eine Hütte in eine der Hallen gebaut, einen Alles­brenner reinge­stellt und hätten hier überwin­tert.  Zur ersten Hütte sind weitere gekommen. Die meisten von ihnen sind so groß, dass ein Bett und die persön­li­chen Habse­lig­keiten eines Bewohners hinein passen. Der eigent­liche Wohnbe­reich liegt vor den Verschlägen: So wie diese Essgruppe hier. In der Grill­schale lecken die Flämmchen, Albert schürt, draußen dämmert es. Die Atmosphäre könnte fast privat sein, würden nicht dauernd Grüppchen von Zwanzig­jäh­rigen durchs Esszimmer gehen. Albert beachtet sie nicht. Die Roma haben andere Sorgen. Ihre Haupt­sorge ist, dass sich auch diese Nische wieder schließt, dass die Fabrik noch vor dem Winter geräumt werden könnte und sie weiter ziehen müssen. Nicht, dass sie die Fabrik lieben würden. Im Gegenteil. Aber so wie die Sprayer, Touristen und  Roman­tiker brauchen sie die letzte Ruine an der Spree.

Wenn man Albert ansieht, fällt auf, dass sein Äußeres in starkem Gegensatz zum Ruinen­schmuddel und Feuerruß steht. Er trägt ein T-Shirt, das tatsäch­lich weiß ist, dazu Turnhosen und eine Leder­jacke in Beige. Er ist ein kräftiger Mann, der auch im Sitzen so wirkt, als wollte er gleich aufspringen und irgendwas packen – ein Rugbyei zum Beispiel. Dabei erzählt er, wie er zurande kommt. Vom Kupfer­sam­meln, das pro Kilo drei Euro einbringt. Von Jobs auf dem Bau und von den Schwie­rig­keiten, ohne Melde­adresse eine stetige Arbeit zu kriegen. Von seiner Siedlung in Dobritsch, wo sie gar nichts haben – und von Deutsch­land, wo sie versuchen, mit Schrott­sam­meln und Gelegen­heits­jobs ein bisschen Geld  anzusparen. Mit dem Geld werden sie eines Tages eine richtige Wohnung mieten können, mit der legalen Adresse wiederum kann man ein Gewerbe anmelden, und als Selbst­stän­diger darf man als Bulgare in Deutsch­land legal arbeiten. Albert mag Worte wie „legal“, „Gewer­be­schein“ und „Eu-Bürgerschaft“. Immer wieder streut er ins Gespräch ein, dass die Bulgaren jetzt EU-Bürger seien, und es hört sich an, als wollte er die Formel vom guten Leben beschwören. Das gute Leben kommt später. Bis dahin muss man durch­halten, Feuerholz sammeln und Wasser in Handkarren heran­holen. Er klingt wie unsere Großväter aus der Nachkriegs­ge­nera­tion, die von den harten Zeiten erzählen. Nur dass die vermut­lich ihr Abend­essen nicht in Ruinen am offenen Feuer zubereitet haben. Und falls doch, wäre keine Japanerin vorbei­ge­kommen, die von ihnen und ihrem Grill­feuer ein Foto gemacht hätte. Im Hinter­grund ein Graffiti mit den Buchstaben „Freaks“.

„Ich zeig euch was“, sagt Albert. Wir folgen ihm. Es geht wieder durch den Flur, wo zwei Hip Hopper gerade die Wand für ein neues Bild grundieren. Eine weitere Halle schließt sich an, die groß ist wie ein Museums­saal. Der Boden ist blank, wie gefegt. „Das hab ich gemacht“, erklärt Albert. „Bevor ich meine Hütte gebaut habe, hab ich sauber gemacht.“ Denn als er hier ankam, türmten sich in Brusthöhe Flaschen, Geträn­ke­kisten, modernden Sofas und Matratzen. Er hat keine Ahnung, wo das ganze Zeug herkam. Viel wichtiger war ihm, es rauszu­schaffen. Er hat einen alten Couch­tisch aus dem Müll gezogen und ihn wie einen Schnee­schieber benutzt. Damit hat er alles nach draußen geschoben. Einfach raus. Und dann Wasser hinterher. 14 Eimer.

Erst dann hat er hier aus Sperrholz sein Haus errichtet. Er kramt einen Schlüssel hervor und schließt auf: Drinnen stehen Schuhe sauber aufge­reiht. Alberts Turnschuhe, seine Puschen und ein paar Damen­schläpp­chen. Seine Frau aus Bulgarien ist gekommen, erzählt er. Stolz. Er hat Laminat verlegt und ein weißes Ehebett aufge­trieben, eine rosa Decke darauf ausge­breitet und einen Blumen­schmuck angebracht. In einer Ecke gibt es eine Vitrine mit Nippes.

Als wir uns verab­schieden, bringt Albert uns nach draußen. „Zur Tür“ kann man schlecht sagen, weil es keine Tür mehr gibt. „Passt auf euch auf“, sagt er. „Lasst euch nicht von den Ratten fressen.“ Denn der Keller und das Ufer gehören den Ratten. In der Dämmerung, wenn sich die Müllhaufen vor der Tür vor lauter Ratten heben und senken, wirft er mit Steinen nach ihnen. Wenn es nach Albert ginge, könnte die ganze Fabrik gerne abgerissen werden. Oder gesprengt werden. Er stellt sich vor, wie die Ratten explo­dieren.

Am besten fände er, wenn der Berliner Senat ihnen ein Ersatz­haus geben würde, damit sie als EU-Bürger einen Platz zum Wohnen hätten. Aber ein sauberes, schönes Haus, mit Laminat.

Die Eisfabrik in der Köpeni­cker Straße40/41 ist eine der ältesten Eisfa­briken und steht unter Denkmal­schutz. 1995 ging sie in den Besitz der Treuhand­lie­gen­schafts­ge­sell­schaft (TLG) über, die sie 2006 abreißen und hochprei­siges Wohnen am Wasser bauen wollte. Aller­dings erhielt sie nur für einen Teil des Ensembles eine Abriss­ge­neh­mi­gung. Der Rest der Fabrik sei zu erhalten, entschied der Denkmal­schutz. Diesen veräu­ßerte die TLG an den Investor “Telamon”, der eine kultu­relle Nutzung plante. Seither liegen jedoch beide Planungen brach, denn die bundes­ei­gene TLG wurde an die private Gesell­schaft “Lone Star” verkauft, und diese zögerte zum Zeitpunkt des Entste­hens des Artikels, was weiterhin geschehen sollte.

Erschienen in der taz - 29. September 2013