Öffent­lich Essen

Gestern hatte ich etwas zu feiern. Deshalb fuhr ich in die Stadt, denn ich wollte essen gehen. Während ich schreibe, schäme ich mich ein wenig, denn es ist möglich, dass Frau Simke diesen Text liest. 

Frau Simke führt einen der wenigen alten Gasthöfe in unserer Gegend. Ein Gasthof, der früher Teil einer großen Bauern­wirt­schaft war und aus der Krüger­stelle hervor­ge­gangen ist. Ein großes, ehema­liges Bauern­haus am Anger von Herzberg, vis a vis steht die Kirche, eine vergleichs­weise protzige neugo­ti­sche Kirche, denn Herzberg war ein Dorf mit mehreren großen Bauern­wirt­schaften. Auf einem Foto, das auf der Speise­karte abgebildet ist, ist das Haus zu sehen, als die Straße davor noch ein Sandweg war. Die Aufnahme stammt aus der Zeit um die Jahrhun­dert­wende. Man sieht ein Fahrrad, spielende Kinder und einige Leute, die sich mitten auf der Straße unter­halten. Heute ist auf dieser Straße noch weniger Betrieb, als die Szenerie auf dem Foto zeigt. 

Es ist wie in vielen Branden­burger Dörfern. Auf einer Haupt­ver­kehrs­ader kachelt der ganze Verkehr durch die Ortschaft. Darüber hinaus gibt zwei bis drei weitere Straßen, auf denen sich nur etwa alle Stunde ein Vehikel, ein Mann, eine Frau, ein Betrun­kener, ein Herrchen mit Hund oder ein Kind bewegt, das vom Schulbus nach Hause trottelt. Oder jemand, der Berge von Unkraut aus den Ritzen der Gehweg­platten rupft – was den Gehweg nicht aufre­gender macht. Er besteht aus grauen, quadra­ti­schen Zement­platten, die meist einfach in den Sand gelegt wurden. Mal mit Unkraut, das in den Ritzen wächst, mal ohne. Für uns muss das reichen. Wenn man nicht gerade an so einer Straße wohnt, bekommt man kaum mit, dass hier überhaupt Leben ist. Aber es ist da. Die meisten Leute, die vorbei­gehen, kann man mit ihren Vornamen grüßen. Dieses Wenig an öffent­li­chem Leben wird von Fremden meist als Mangel beschrieben. Als „nichts los“ oder „der Hund begraben“.

Gasthöfe wie „Simke“ hatten früher keine Auswahl an Speisen. Man bekam ein Bier und konnte etwas Einfaches essen. Im Saal wurden die Feste des Dorfs gefeiert. Das war alles. Für wen auch hätte man teure Speisen vorhalten sollen? Für die Bauern? Kaum. 

Als Frau Simke Kind war, hat sie im Gastraum ihre Hausauf­gaben gemacht, und wenn ein Gast kam, musste sie aufstehen und den Gast bedienen. Ihre Eltern führten das Lokal als Konsum­gast­stätte. Das Haupt­ge­schäft war, die Heimkehrer aus den Schicht­bussen und die LPG-Bauern mit Bier zu versorgen. Es soll nicht eben wenig Bier gewesen sein. Als Frau Simke den Gasthof übernahm, hatte sie den Ehrgeiz, aus ihm ein Lokal mit richtiger Speise­karte zu machen – was mit Schwie­rig­keiten verbunden war, weil vieles, was sie für ihre Speise­karte gebraucht hätte, nicht geliefert werden konnte. Nach der Wende änderten sich die Art der Schwie­rig­keiten. Über Nacht konnte sie nun ordern, was immer sie wollte – aber die Kundschaft blieb aus. Nicht mal Bier trank man mehr in der Kneipe. Es sei nicht bloß das Geld gewesen, erzählte sie mir einmal. Die Leute seien verun­si­chert gewesen. Arbeitslos und verun­si­chert. Sie verkro­chen sich in ihre Häuser und wollten in dieser Verun­si­che­rung nicht gesehen werden. 

Frau Simke hielt dennoch durch. Sie ist eine fleißige, man könnte sagen unermüd­liche Frau. Sie hat an Monteure vermietet, hat Vereine an ihren Gasthof gebunden, so kam sie über diese Zeit. Statt aufzu­geben, hat sie expan­diert. Zur Gänsezeit hockt heute der ganze alte Saal voller Leute, die alle zur Feier des Tages Gans mit Rotkohl essen wollen. Und mitten drin Frau Simke. Ein zartes Persön­chen, aber ohne Müdigkeit. Winters gibt es bei ihr Schlach­te­platten mit hausei­gener Wurst, zur Spargel­zeit Spargel, und hin und wieder gibt es sogar Frikassee – die Branden­burger Variante, die mit Spargel, Kapern und Hackbäll­chen.

Schwierig ist nach wie vor das Geschäft an den Wochen­tagen. Wochen­tage sind auf den Branden­burger Dörfern auch heute noch keine Essen­ge­hens­zeit. Man geht am Wochen­ende oder zu bestimmten Anlässen essen – und nicht, um sich mal eben etwas zu gönnen. Auch bei den jüngeren Leuten scheint das nicht wesent­lich anders zu sein als bei den älteren. 

Dennoch gibt es bei Simke auch wochen­tags Küche. Aller­dings ist die Zahl der Gäste im Gastraum dann überschaubar, und das Ganze vermit­telt nicht im Geringsten den Eindruck von Fülle, prallem Leben und was man sich sonst unter einem Abend in einem Lokal vorstellen mag, wenn man aus der Stadt kommt. Aber es gibt etwas! Jeden­falls, wenn man vor acht Uhr da ist. Und das ist mehr, als man in unserer Gegend erwarten darf. A la Carte wird zum Beispiel die ganze Reihe klassi­scher Schnitzel serviert – vom Schnitzel Wiener Art (mit Panade) über  Schnitzel Hamburger Art (ohne Panade) bis hin zum Schnitzel au Four.

Schnitzel au Four ist – für Leser, die das nicht kennen – ein paniertes Schnitzel, auf dem oben auf noch ein Würzfleisch liegt. Das Ganze wird darüber hinaus noch mit Käse überba­cken. Es ist ein ultima­tiver Stapel verschie­dener Arten von Fleisch und Fett. Wenn man hart gearbeitet oder gefroren hat, ist ein Schnitzel au Four die Öffnung des Himmels. Als wir vor einigen Jahren im Winter ein kaltes Haus zu renovieren hatten, freuten wir uns über Schnitzel au Four.

Einmal gab uns Frau Simke ein paar Schnäpse mit nach Hause, damit wir nicht so frieren müssen, denn sie wusste, dass wir gerade weder Öfen noch Heizung hatten. Das war gütig von ihr. Frau Simke – immer mit sorgsam gelegten Locken, immer zurück­hal­tend. Und auch, wenn man sich schon hunderte Male unter­halten hat, bleibt man immer beim Sie.

Inzwi­schen ist Frau Simke noch zierli­cher geworden, aber weiterhin unermüd­lich, und ihre Kinder sind in den mütter­li­chen Betrieb einge­stiegen. Das ist gut für die Zukunft des Gasthofs, für die Gäste aber ist es mit Nachteilen verbunden. Denn die Kinder haben, wie die ganze junge Genera­tion, Vorstel­lungen von ihrer Freizeit. Sie haben einen Ruhetag einge­führt, und sie machen – und das mitunter sogar an Sonntagen – den Laden einfach dicht, wenn sie erschöpft sind. Frau Simke wäre das nie in den Sinn gekommen. Sie vertritt die Auffas­sung, dass ein Mensch für seinen Gasthof da ist. Nicht umgekehrt. Da gibt es weder Erschöp­fung noch einen Ruhetag. 

Vielleicht hat es damit zu tun, dass ihre Vorfahren für ihren Hof da waren. Und da gab es nichts in Frage zu stellen. Morgens wird zuerst das Vieh gefüttert, und erst dann ist das eigene Frühstü­cken dran. Hof und Mensch hängen in diesem Universum eng mitein­ander zusammen. Freizeit im engeren Sinne kommt nicht darin vor. 

Auch die Großel­tern meines Mannes, die einen viel kleineren Hof hatten, dachten so. Der Großvater hatte den Krieg überstanden und war im Anschluss mit der LPG konfron­tiert. Nicht allen Leuten glaube ich die Geschichte mit dem Wagen, der vorm Haus steht und über Lautspre­cher den renitenten Bauern auffor­dert, endlich in die Genos­sen­schaft zu gehen. Aber ihm glaube ich es. 

Der Hof war ein Kossä­ten­höf­chen, das laut Chronik und Famili­en­ge­dächtnis schon seit dem 17. Jahrhun­dert besteht. Die Vorfahren müssen gut gewirt­schaftet haben, denn sie hatten schon vor dem Krieg eine elektri­sche Dresch­ma­schine angeschafft. Um die DDR arbei­teten die Großel­tern drumherum. Wie verlangt, gingen sie in die LPG, aber nach Feier­abend bauten sie auf den eigenen Flächen Futter an, hielten Ferkel­sauen und mästeten Bullen. Damit verdienten sie – die in der ehema­ligen DDR auf dem Land lebenden kennen das, aber mich überraschte es – richtiges Geld. Die Großel­tern gaben dieses Geld nie für ihre Freizeit aus, sondern hielten den Hof damit in Schuss. Nach einem Scheu­nen­brand in den Achtzi­gern bauten sie eine neue, steinerne Scheune. Alles in dem Gedanken, dass der Hof, wenn die DDR vielleicht mal zu Ende wäre, wieder angeschmissen werden könnte. 

Als die DDR zu Ende war, waren die Großel­tern zu alt, um mit dem in Schuss gehal­tenen Hof etwas anzufangen. Auch mit dem Geld fingen sie nichts an. Keine Reisen, obwohl sie im besten Alter rüstiger Rentner waren. Keine Anschaf­fungen. Nichts. Ich kann es mir nur so erklären, dass ihnen der Gedanke an eigene Ansprüche schlicht und einfach nicht kam. Diese Leute, die irgendwie nur für ihr Schaffen da gewesen waren, hatten nun keinen Daseins­grund mehr, und infol­ge­dessen verschwanden sie bald. Nicht, dass sie weg gingen. So etwas würden Bauern nie tun. Oder gar Hand an sich legten. Sie verschwanden einfach, sprachen kaum mehr und starben bald. Immerhin disku­tierten sie nicht über die Erfor­der­nisse einer neuen Zeit und verloren ihre Würde nicht. Sie hielten Distanz zu dieser neuen Zeit. Auch mit mir blieben sie distan­ziert.

Als wir den Hof ausräumten fiel uns auf, dass es bei ihnen draußen ein hübsches Plätzchen gab. Wir trugen einen Tisch raus und tranken dort Kaffee und aßen etwas, wenn wir Pause machten. Es war das erste Mal, dass hier draußen jemand saß und Kaffee trank. Die Großel­tern hatten dort nichts. Nicht einmal eine Bank.

Ich habe jedes Mal eine kleine Scheu, von den Branden­burger Großel­tern zu erzählen. Weil sie so wenig gesprä­chig waren, habe ich, wenn ich es dennoch tue, das Gefühl, ihnen ihre Geschichte zu entreißen. Worte zu verwenden, die nicht ihre gewesen wären. Ihnen auf diese Weise Gewalt anzutun. Da ich nun aber doch über sie spreche, sei noch gesagt, dass sie niemals essen gingen. Obwohl sich das fast von selbst versteht. Sie waren immer froh, wenn sie abends das Hoftor zumachen konnten.

Bei uns ist das ganz anders. Wir gehen gerne essen. Ist es die Gewohn­heit? Liegt es am Angebot? Oder ist es das Geld? Am Geld allein kann es nicht liegen. Die Branden­burger Großel­tern hätten ausrei­chend Geld dazu gehabt, gingen aber nie auswärts essen. Wir dagegen sind zu allen Zeiten immer in Restau­rants gegangen, selbst in Jahren, als ich am Paul-Linke-Ufer, wenn dort Freitag abends die Händler ihre Markt­stände abbauten, nach Gemüse angefragt habe, das sie manchmal umsonst abgaben. Ich frage mich, was es mit dem öffent­li­chen Essen und Trinken auf sich hat. Die Sozial­wis­sen­schaftler sehen stets etwas Positives in der Kultur des Essen­ge­hens. Mit Kulinarik, Esskultur und guter Gastro könne man nicht nur die Kultur überhaupt, sondern den öffent­li­chen Raum gleich mit veredeln. Dabei ist öfter von Italien die Rede – vom Flanieren und eben vom Speisen im öffent­li­chen Raum als einer sinnen­frohen Angele­gen­heit – einem selbst­be­wussten Sichein­ver­leiben desselben. Wobei, so habe ich das immer verstanden, auch Straßen und Plätze an Zuwendung, Pflege und Schönheit gewännen. Schließ­lich möchte man es sich ja gut gehen lassen. Dazu der Gedanke, der öffent­liche Raum würde belebt – das ewig beschwo­rene Bild von der Leben­dig­keit eines Raums durch Flaneure, Restau­rants, Cafés. Ich glaube, ich hätte früher zustim­mend genickt, zu dieser Idee. Sie war hegemo­nial, als ich studiert habe und kam mir selbst­ver­ständ­lich vor. Obwohl ich, wenn ich mich genauer befrage, auch früher schon leise Zweifel hatte.

Über die Durch meineDurch meine Arbeit habe ich öfter mit Raum- und Landschafts­pla­nern zu tun, Leuten, die die Entwick­lungs­chancen von ländli­chen Räumen „ausloten“, sie „resilient“ oder gar „zukunfts­fähig“ machen wollen. Oder anschluss­fähig an kreative Lebens­stile. Auch ihnen gelten Stühle und Tische im Straßen­raum stets als Indikator dafür, auf dem richtigen Weg zu sein. Ein Kultur­wis­sen­schaftler, der eine Weile lang hoch im Kurs stand, sah einmal sogar die große Chance darin, das in seinen Augen fast hoffnungs­lose ländliche Branden­burg doch noch fit für die Zukunft zu machen, die Ossis zu lehren, endlich ihre kaum vorhan­dene gastro­no­mi­sche Kultur auszu­bauen. Wenn ich mich recht erinnere, sagte er, dass die Branden­burger ohnehin gar keine Küche hätten. Es gebe nur Soleier und Letscho. Und dass man den Ossis, um sie zu entwi­ckeln, das Kochen erst beibringen müsse. 

Wenn ich nachdenke, ging aber auch meine fränki­sche Oma, eine Näherin, nicht essen, wenn man von Weißwurst bei Kirch­weih­festen absieht. Sie legte größten Wert auf Essen – aß aber nur, was sie selbst kochte. Das waren einfache und schmack­hafte Gerichte wie zum Beispiel Leber­spätzle oder Leber­knödel, zu denen sie weder aufge­schrie­bene Rezepte noch eine Küchen­wage brauchte. Dennoch war ihr wichtig, dass diese Gerichte genau auf eine bestimmte Weise gemacht wurden, es wurden da keinerlei Abwei­chungen toleriert. Ganz ähnlich ist es mit dem Frikassee, das man in Branden­burg kocht. Meine Nachbarin war, als mein Mann es einmal machte, ganz aufgeregt, ob der Junge das auch hinkriegen würde. Mit genau der richtigen Note Zitrone und mit ausrei­chend – aber ja nicht zu vielen Kapern. Das Branden­burger Frikassee schmeckt hervor­ra­gend (jeden­falls, wenn man es genau richtig macht). Aus mir nicht erklär­li­chen Gründen gibt es dieses Gericht, vom Gasthof Simke abgesehen, aber nie in Branden­burger Gaststätten zu essen. Vielleicht behalten die Branden­burger ihr Geheimnis lieber für sich.

Um meinen beson­deren Tag zu feiern, gingen wir dennoch nicht zu Simke – sondern wir fuhren in die Stadt. Ich komme aus dem Süden, und als ich daran dachte, uns etwas gönnen zu wollen, dachte ich an ein Schnitzel. Ähnlich wie meine Oma und meine Nachbarin habe ich genaue Vorstel­lungen von Gerichten, die mir nahe sind, und so ist es mit dem Schnitzel. Ein gutes Schnitzel muss richtig paniert sein. Das Fleisch selbst ist – entgegen dem Gerede von Möchtegern-Gourmets – nicht sonder­lich wichtig. Es muss kein Kalb sein, auch Schwein tut es, denn das Fleisch wird ja dünn geklopft, man schmeckt es eigent­lich kaum. Viel wichtiger ist, dass die Schnitzel heiß genug und in ausrei­chend Öl gebraten werden. Das entschei­dende ist, dass die Panade das Fett nicht aufsaugt, sondern kross darin wird, und dass zwischen Panade und Fleisch ein kleines Luftpolster entsteht. 

Die Schnitzel, die die Branden­burger machen, sind in Ordnung. Aber genau auf dem Punkt sind sie nicht. Ich hoffe, dass die Branden­burger, die ich lieb gewonnen habe, mir nun nicht die Freund­schaft kündigen. Aber wenn ich Schnitzel essen gehen möchte, fahre ich in ein Lokal, das Leute betreiben, die das Panieren wirklich können. In Berlin gibt es ein solches Lokal. Es wird von Südti­ro­lern geführt und liegt im bürger­li­cheren Teil von Kreuzberg. Ich reser­vierte dort einen Tisch, denn das Lokal ist begehrt.

Wir stiegen aus der Bahn aus und machten uns zu Fuß auf den Weg, aus Senti­men­ta­lität. Ich weiß, ich schreibe nie gut über Berlin, aber ich habe doch auch eine Liebe zu dieser Stadt. Wir gingen los am Schle­si­schen Tor, wo wir früher täglich waren, dann am Park entlang, dann Richtung Landwehr­kanal. Ein Regenguss war gerade nieder gegangen, die Luft roch noch sauber, nach Regen und Blättern. Ein Haus fiel uns auf, an dem wir früher, ohne es anzusehen, immer vorbei­ge­gangen waren. Es hatte eine pracht­volle Stuck­fas­sade, war aber noch so dunkelg­rau­braun wie früher alle Fassaden. Ich musste daran denken, wie leer die Stadt damals war. Daran, wie sie sich langsam füllte und selbst im östlichen, ärmeren Teil von Kreuzberg, dort wo wir wohnten, die ersten ambitio­nierten Restau­rants aufmachten. 

Ich hatte das graue, verschla­fene Berlin immer gemocht. Nicht nur in Ostberlin, auch in Westberlin gab es noch viele Erdge­schoss­woh­nungen, deren Rollläden dauerhaft herun­ter­ge­lassen waren. Es gab weniger Laden­lo­kale, dafür noch mehr Werkstätten in den Hinter­höfen. Gegenüber unserer Wohnung war eine Tisch­lerei, die fingen immer schon früh mit der Arbeit an. Einmal war ich dort und habe mich mit dem Tischler über Schel­lacke unter­halten, er erklärte mir, wo ich Schellack bekomme und wie ich ihn verar­beiten muss. Im Hof nebenan gab es eine Kfz-Werkstatt, dort schoben sie öfter dicke Motor­räder rein und raus. 

Gerade an den Abenden aber sah es in unserem Viertel sehr dunkel aus. Ich kann mich daran erinnern, wie einmal eine Kölnerin zu mir sagte, sie hätte in unserer Gegend eine Wohnung gemietet, aber sie hielte es nicht aus, weil es abends so dunkel sei. Ich war daran gewöhnt und konnte sie nicht verstehen. In diesem älteren Berlin stieg es aus den Kellern oft so ein säuer­li­cher Geruch auf, der in den Höfen und Torein­fahrten stand. Ich verbinde ihn noch heute mit Stille und Langsam­keit. Ich hatte nichts dagegen, weder gegen diese Gerüche, noch gegen die nächt­liche Dunkel­heit, die Langsam­keit, die blätternden Ölfarben in den Treppen­häu­sern. Ich nahm das alles damals so wie es war.

Dennoch freute ich mich über die neuen Restau­rants. Natürlich hatte es auch vorher schon Gaststätten gegeben. Aber etwa Anfang der 2000er hat es im östlichen Kreuzberg, ich weiß nicht warum, einen Schub gegeben. Ein Lokal war unter den Neueröff­nungen, das gute Schnitzel machte. Der Wirt hieß Sebastian. Er betrieb dieses Restau­rant mit Liebe, vieles, aber nicht alles stimmte zusammen. Eine Freundin, die selbst Kellnerin war, bemän­gelte einmal einen Kellner – es war ein Kumpel von Sebastian – der schwarze Ränder unter den Finger­nä­geln hatte. Mich beein­druckte das. Auf die Finger­nägel hatte ich gar nicht geachtet. Auch nicht darauf, dass die Tische nicht ganz stilsi­cher aufge­ar­beitet waren. Mit Gastro­nomie hatten offenbar weder ich noch unser Viertel ausrei­chend Erfahrung. Aber ich mochte, dass Sebastian selbst Fleisch von Höfen holte, die er kannte. Ganze Kuhhälften holte er, und er zerwirkte sie selbst. Das fand ich achtens­wert. Es war kein dekla­riertes Biofleisch, wichtiger war ihm, dass er die Höfe in Ordnung fand, im Umgang mit den Tieren aber auch mit Menschen. Im Sommer aller­dings passierte es oft, dass so viele Leute ihm die Bude einrannten, dass Sebastian sie mit Metro­f­leisch abfüttern musste. Die Schnitzel waren trotzdem fantas­tisch. Auf dem Bürger­steig sitzen, gut essen und Riesling dazu trinken. Das war es damals. Im sich füllenden Berlin. 

Ich kann mich an einen taz-Artikel aus dieser Zeit erinnern, in dem es hieß, die linken Milieus in Kreuzberg würden jetzt den Hedonismus für sich entdecken. Damals fand man das noch erwäh­nens­wert. Darf man das? Oder ist das bürger­lich? Heute weiß ich, dass die Szenerie der Bürger­steig­ho­cker bei Sebastian vor allem eins war: Sie war vergleichs­weise beschau­lich. 

Wenig später kamen junge und mittel­alte – aber nie alte Leute – in Scharen, deren Hedonismus niemand mehr infrage stellte. Als hätte sie jemand gerufen. Eine Zeitlang sprachen alle über diese neue Entwick­lung. Bald danach hatten es alle satt. In der Tat war es müßig, darüber zu reden. Es war da, es griff Raum. Diese Leute, die selten längere Zeit in Berlin leben, waren da und konsu­mierten – und jeder Winkel anver­wan­delte sich diesem Konsum. In unseren Straßen mit den Bäumen und breiten Granit­geh­weg­platten, mit dem leicht bröckelnden Flair hieß Konsum nicht Boutique oder Galerie, sondern ein Fluten der Bürger­steige mit Tischen, an denen irgend­welche Sachen gegessen und getrunken werden. Ein tausend­fa­ches, wütendes Sichein­ver­leiben – nicht aber eines öffent­li­chen Raums, der dieser steigenden Aufmerk­sam­keit wegen an Reiz und Gestalt gewonnen hätte. Im Gegenteil. 

Das Restau­rant, das Sebastian führte, machte bald dicht. So ziemlich alle Lokale, die mehr gewollt hatten, als in kürzester Zeit die größt­mög­li­chen Gewinne einzu­fahren, mussten aufgeben, denn die Gewer­be­mieten schossen nach oben. Sie machten Restau­rant­ketten Platz, die die neuen Mieten einspielen können, indem sie en gros kalku­lieren. Das Außen­mo­bi­liar dieser neuen Restau­rants folgt schnell wechselnden Moden. Mal hängen die Terrassen voll mit übergroßen Spanlampen, in denen Riesen­glüh­birnen mit orange­far­benen Leucht­di­oden glimmen. Ein anders Mal müssen alle Sitzbänke aus zersägten Euro-Paletten bestehen. Und wieder ein anderes Mal sehen alle Tische aus, als hätte jemand sie absicht­lich schlecht abgeschliffen, weil man vielleicht – savoir vivre – auf das langwei­lige Renovieren nicht mehr Zeit aufwenden wollte. Das ganze­Er­gebnis soll, klar, authen­tisch aussehen. Aber alle Tische sind exakt gleich, wodurch das Ganze einen falschen und lieblosen Eindruck macht. Aber das ist auch egal, denn genau wie die Leute, die an ihnen speisen, werden es morgen sowieso schon wieder andere sein. 

Ich frage mich, was es ist, das all die Menschen sich an diesen Tischen einver­leiben. Nie habe ich Leute häufiger öfter sagen hören, sie liebten Berlin. Aber ich frage mich, was sie lieben? Ich frage mich, ob sie Gaumen, Augen und Nasen haben. Denn wenn sie schmecken könnten, würden sie merken, welchen Mist sie essen. Das Essen sieht zwar gesund aus und enthält immer öfter kein Fleisch, besteht jedoch aus zusam­men­ge­pressten Abfall­pro­dukten und wird mit billigem Glucose-Sirup schmack­haft gemacht. Wenn sie riechen könnten, würden sie die Pisse der Party­gäste riechen, die nachts hier gehen und an die Fassaden pinkeln. Sie würden den Müll sehen, den die Leute abwerfen, denn wenn sie im öffent­li­chen Raum nicht im Lokal essen und trinken, essen und trinken sie im Gehen und lassen nach Gebrauch alles neben sich fallen. Früher habe ich manchmal einen Plastik­sack genommen und den ganzen Mist wegge­räumt, die Pizza­pappen und die verdammten Kaffee­be­cher. 

Seit etwa zwei Jahren sitzen links und rechts in den Hausein­gängen herun­ter­ge­kom­mene junge Leute, die ihr Crack aufkochen. Auch jetzt hockten sie da. Geduckt, manche allein, manchmal Grüppchen im Kreis. Als wäre das Pfeifchen in der Mitte das Feuer, an dem sie sich wärmen. Die Menschen­gruppen, die uns entgegen kommen, gehen, ohne sie zu beachten, an ihnen vorbei. Mit einem Mädchen habe ich mich einmal lang unter­halten, sie trug verdreckte Designer­kla­motten, hatte ein schönes Gesicht mit scharf geschnit­tenen Konturen und kam mir wie ein gefal­lener Engel vor. Sie sprach schnell und nur von sich. Seit die vielen Crack-Kinder da sind, steht oft ein Kranken­wagen vorm Görlitzer Park. 

Wir brauchten länger als erwartet, weil uns mehr Menschen als sonst entge­gen­kamen. Der Regen verdampfte bereits, die Hitze erhob sich wieder, ihre Kraft war schon zu spüren. Wir haben uns daran gewöhnt, mit gesenktem Blick die dichten Scharen von Menschen zu durch­teilen (man weicht einander nie aus), die statt ihrer Pappkaf­fee­be­cher nun öfter nachhal­tige Becher aus Hartplastik vor sich her tragen. Öfter berührt man sich. Man berührt Schultern, berührt Arme. Wenn man Pech hat, hat man einen heißen Schwapp brauner Brühe auf der Brust. Deshalb muss man, während man sich schlän­gelt, den Blick hin und wieder heben. Obwohl ich wissen müsste, dass diese Leute vermut­lich nur jetzt im Augen­blick gerade Ferien machen oder etwas feiern wollen, so wie ich heute, habe ich in diesen Momenten manchmal die Vorstel­lung, dass unsere ganze Welt nur noch aus diesen Wogen von Freizeit­men­schen besteht. Ihre Arbeit besteht darin, immer genauere und immer häufiger wechselnde Ansprüche an ihre Freizeit zu formu­lieren. Niemand mehr kann einen Nagel in die Wand schlagen. Niemand kann mehr einen Knopf annähen. Oder gar eine Kuh melken. Was ist überhaupt ein Nagel? Was ist ein Knopf? Aber immer Menschen, die auf sich halten, wissen, dass in ihren Kaffee Hafer­milch muss, eine ganz bestimmte Hafer­milch. 

Die Schei­de­grenze zwischen dem östlichen, ärmeren Kreuzberg und dem bürger­li­cheren Kreuzberg ist der Kottbusser Damm. Wir überquerten ihn und ließen uns in Richtung Zicken­platz trudeln. Hinter dem Zicken­platz beginnt eine andere Welt. Eine Straße mit hohen Torein­fahrten und Platanen, die ihr Blätter­dach über uns breiteten. Die Welt jenseits des Zicken­platzes ist gefäl­liger, die Lokale schöner, als hätte der Geschmack hier sein Refugium gefunden. Bodegas in Souter­rains, mediterran anmutend. Terra­cot­ta­k­übel mit Horten­sien vor Eingängen. Wir hatten es nicht mehr weit. 

Seit die Ansprüche der öffent­lich Essenden die Stadt beherr­schen, haben das ärmere und das reichere Kreuzberg sich getrennt. Früher waren sie fast eins. Jetzt liegen Konti­nente zwischen ihnen. Während im östlichen Kreuzberg die Besitzer der Häuser die höchst­mög­li­chen Gewer­be­mieten über Billig­ketten einspielen, reicht im reicheren Kreuzberg offenbar die Kaufkraft aus für den guten Geschmack. Lokale wie das, das Sebastian betrieb, sind heute hier angesie­delt. Mit dem feinen Unter­schied, dass in diesen Lokalen alles stimmt. Keine schwarzen Ränder mehr unter Finger­nä­geln von Kellnern, nirgendwo mehr ungekonnter Stil.

Für einen Augen­blick fühle ich, wenn ich den Zicken­platz überquert habe, jedes Mal eine kleine Last von mir abfallen, weil kein Müll mehr herum­liegt und keine Drogen­kinder ihren Verfall öffent­lich zur Schau stellen. (Wobei es uns vielleicht ganz recht geschieht, ihn sehen zu müssen, weil der Verfall die Kehrseite unserer auf Wachstum und schönen Schein bedachten Lebens­weise ist). Vielleicht vertreiben die beflis­senen Restau­rant­be­treiber die Drogen­kinder mit Wasser­schläu­chen und heben jeglichen Müll schnell auf, noch bevor er den Boden berührt. Vielleicht wissen die Drogen­kinder auch inwendig, welche Zonen der Stadt ihnen zugedacht sind. Hier jeden­falls gehen üblicher­weise Leute, die besser aussehen und besser gekleidet sind. 

Aller­dings fiel mir heute auf, dass die Menschen, die die Straße bevöl­kerten, andere waren als sonst in dieser Gegend. Immer wieder tauchten Grüppchen von Leuten auf, die auffal­lend braun­ge­brannt waren. Etliche von ihnen trugen Zelte unterm Arm, als kämen sie gerade vom Camping. Mein Gott, dachte ich, natürlich, ich hätte daran denken können. Die Fusion war gerade zu Ende gegangen, und seine Besucher strömten jetzt durch die Stadt. Ihr Abtrans­port per Schiene dauert Tage, und oft hängen sie noch ein paar Berlin­tage dran. Die Fusion ist, für Leser, die das nicht wissen, ein alter­na­tives Techno­fes­tival, das in den 2000ern klein angefangen hat und heute eine temporäre Stadt neben der Stadt geworden ist. Mit unzäh­ligen Bars, veganem Essen und selbst­ver­ständ­lich mit Kompost­toi­letten. Ich würde mich nicht wundern, wenn aus der Fusion eines Tages tatsäch­lich eine Stadt­grün­dung hervor­gehen würde. Und wenn diese Stadt eines Tages größer werden würde als Berlin. Wenn sie Berlin verschlu­cken würde und die Fremden­führer in hundert Jahren sagen: „Hier sehen sie den ursprüng­li­chen Stadtkern von Berlin, er ist unbedeu­tend geworden, aber pittoresk anzusehen, wir nutzen ihn heute nur noch touris­tisch, da es zu unöko­lo­gisch wäre, ihn zu beheizen. Natürlich leben die modernen Menschen heute in Zelten! Zum Winter hin entsorgen wir die Alten, die in den Zelten nicht überleben könnten, sie werden dann umgehend kompos­tiert und den natür­li­chen Kreis­läufen zurück­ge­geben.“ (Dabei fällt mir auf, dass schon heute die Zelte mitten im Straßen­raum häufiger werden.) Tatsäch­lich erzählte mir eine alljähr­liche Fusion-Gängerin einmal begeis­tert vom Konzept des Kompos­tie­rens anstelle der überkom­menen Grabkultur. Sie ist fast in meinem Alter, geht aber Raven wie eine Zwanzig­jäh­rige, was sie abwech­selt mit Phasen ehrgei­ziger Remote-Arbeit im Kultur­be­reich. Ich habe vergessen, was genau sie macht – vermut­lich organi­siert sie selbst Festivals oder promoted sie. Mit dem Altern der Raves haben auch ihre Gäste sich verändert, so kommt es mir vor, sie sind nicht nur älter geworden, sondern auch schicker, teurer gekleidet und noch sendungs­be­wusster als früher. Tatsäch­lich habe ich manchmal das Gefühl, diese Kultur, ihre Drogen und ihr Lebens­ge­fühl beein­flussen die Gesell­schaft – aller­dings nur die städti­sche. 

Als wir den Tiroler Gasthof erreichten, hatten wir richtig Knast, und ich freute mich wie ein Kind auf das Schnitzel. Auf das Schnitzel und den wunder­baren Kartoffel- und Gurken­salat. Wie damals Sebastian, legen die Südti­roler – oder wo immer sie her sind – Wert darauf, dass die Qualität ihrer Küche und die der Zutaten stimmen. Ich freue mich über so etwas. Das Lokal ist ein wenig gediegen – nicht so wie in Bayern etwas gediegen wäre, sondern zugeschnitten auf ein Berliner Publikum. Mit Wirts­haus­ti­schen, die so aufge­ar­beitet sind, dass mit Absicht noch ein zwei Macken darin sind. Alles wahnsinnig hölzern, alles wahnsinnig echt. Ein bisschen kommt man sich vor wie im Manufaktum-Katalog. Auch diese Art von Lokalen, in denen alles nach Manufaktum aussieht, „die echten Dinge, es gibt sie noch“, existieren seit Längerem in Serie. Ihr Innen­leben, Tische, Stühle, Lampen, gleichen sich derart, dass man sich keiner Illusion hingibt, als Gast mehr als ein Vertreter einer ganz bestimmten Zielgruppe zu sein. Deshalb, so meine Strategie, gehe ich selten hin. Und wenn ich es tue, denke ich nicht allzu scharf nach.

Aber sei es drum! Viel größere Sorgen machte mir Augen­blick, dass wir uns verspätet hatten. Die verstopften Straßen, ein weiterer Regenguss, wir hatten uns unter­stellen müssen. Die Reser­vie­rung könnte hinfällig sein. Das Tiroler Lokal mit seiner wirklich guten Küche wird nämlich sehr geschätzt, nicht nur von uns. Ich drückte die schwere Tür zur Gaststube auf. Ein Comic­zeichner hätte mich nun, hätte er die Geschichte zu Papier gebracht, mit zwei dicken Frage­zei­chen über der Stirn darge­stellt. In einem schlechten Roman hätte ich mir ungläubig in den Arm gekniffen. Der Gastraum nämlich, der im Halbdunkel lag, war fast leer. Wäre er ganz leer gewesen, wäre ich sicher gewesen, dass wir uns im Tag geirrt hätten. Aber das war er nicht. Zwei Tische waren besetzt. 

Wir setzten uns nach draußen, weil der verwaiste Gastraum uns zu traurig erschien. Wegen des Regens von vorhin waren die meisten Tische zusam­men­ge­klappt, was der Terrasse eine Atmosphäre von Saison­ende verlieh. Aber eine Kastanie reckte ihre Äste über uns, das mochte ich, hin und wieder tropfte es von ihren Blättern. Ich guckte mir ihre Krone an und überlegte, ob man Kastanien eigent­lich schneidet, und wenn ja, ob man es im Sommer tut, so wie beim Nussbaum oder eher im Herbst – und dass die Kastanien und die Nussbäume in diesem Jahr wegen des vielen Regens gesund und gut aussahen. Am Neben­tisch saß ein Pärchen. Beide trugen creme­far­bene gewachste Regen­ja­cken, die sie nicht ausge­zogen hatten. An der Frau wirkte es, als sei die Regen­jacke keine Funkti­ons­klei­dung, sondern ein Minikleid. Die übergroße Kapuze gab dem etwas Lässiges, die sonnen­ge­bräunten Beine sahen schön aus im Kontrast zum Cremeweiß. Den Mann hatte ich nur von hinten im Blick. Er hatte staksige Beine, mehr sah ich von ihm nicht, ich hörte ihn auch nicht, das lag daran, dass er nicht sprach. Nur die Frau sprach. Sie hatte eine tiefe, dröhnende, leicht heißere Stimme und sprach ohne Punkt und Komma. Es war die Art von Stimme, ich kenne das von Bekannten, die es gewohnt ist, in Clubs gegen unfass­baren Lärm anzuschreien, und wenn der Lärm fehlt, bemerken sie das nicht und röhren in gleicher Lautstärke weiter. Irgend­wann verselbst­stän­digt sich das, und diese Leute sprechen immer so laut. Immer und überall ein paar Dezibel zu laut. 

Die Stimme der Frau schien wie abgekop­pelt – von der eher leisen Situation der halb zusam­men­ge­klappten Sommer­ter­rasse, auch von dem Mann, der ihr gar nichts entge­gen­setzte. Wir hörten ihr zu, weil es zu mühsam gewesen wäre, selbst ein Gespräch zu führen. Erst hörten wir unauf­fällig zu, dann ohne es zu verbergen, weil wir sicher waren, dass sie uns ohnehin nicht bemerkte. Wir hätten einen Handstand machen können, sie hätte uns nicht bemerkt. Ich war nicht mal sicher, ob sie ihr Gegenüber, den Mann mit den staksigen Beinen, bemerkte. Hin und wieder nickte der, während die Frau von einer Strophe ihres Vortrags in die nächste glitt, wobei sie einzelne Sentenzen wieder­holte, jede drei bis vier Mal. Sie war im Recht, das war klar, und sie besaß die absolute Defini­ti­ons­ge­walt über die Dinge. Es waren zweifels­frei wichtige Dinge. Etwa, dass es gestrig sei, wenn Männer bei Konzerten mit freiem Oberkörper auftreten. Weil ja auch Frauen nicht mit freiem Oberkörper auftreten können. Erst wenn auch Frauen eines Tages oben ohne auftreten können, ohne dass Männer sie ansehen, ginge das in Ordnung, weil save. Das Selbst­be­wusst­sein der Frau wirkte verstö­rend, und ich sehnte mich nach allen Menschen, die unsicher sind. Die an einem Tisch sitzen können, ohne sich nach hinten zu lehnen und die Beine überein­an­der­zu­schlagen, als gehöre alles und jegliches ihnen. Die Frau ließ uns wissen, welche Foodtrends mega – und welche gestrig seien. Gestrig: Alle Foodtrends, die gestern noch mega waren. Mega gestrig: Essen, das aus Tieren besteht (wegen des Tierwohls), das aus tieri­schen Eiweißen besteht (wegen der Entzün­dungs­pro­zesse) oder das tierische Fette enthält (wegen der Übersäue­rung). Mega: Detox-Food, serviert in kompos­tier­baren Palmblatt­schalen. Mega mega, der Sternen­himmel, als sie irgendwo auf Bali einmal etwas aß, ich habe vergessen, was es war.

Nur einmal unter­brach sie sich, als ein Kellner kam, den sie bollernd duzte und fragte, ob er was Veganes da habe. Weil es nichts gab, das ihren Ansprü­chen genügte, bestellte sie achsel­zu­ckend Spinat­knödel. Obwohl Ei drin war. Das Duzen von Kellnern ist in Berlin seit etwa zwanzig Jahren normal. Mir ist es unange­nehm, in meinen Ohren hört es sich herab­las­send an. Als der Kellner noch nicht außer Hörweite war, bemerkte die Schöne, Lokale wie dies hätten den Schuss nicht gehört. 

Auch mir kam es vor, als sei irgend­etwas vorbei. Als würde das alles nie mehr wieder gut werden. Als sei die Zeit einfach abgelaufen – für diese Terrasse unter der Kastanie. Als habe dieses Lokal, in dem noch gekocht wird, in dem wirkli­ches Essen zubereitet wird und nicht gepresstes, kandiertes Recycling­ma­te­rial, sich überlebt. Als habe sich die Kultur des Restau­rants an sich überlebt, zumindest in der Großstadt. Eine Kultur, die sich selbst verspeist hat. Sie hat die Stadt vertilgt, und dann sich selbst. 

Ich dachte an den Gasthof Simke und an Frau Simke. An ihre leise Zurück­hal­tung und das „Sie“, auf dem sie besteht. Es hat mich so oft irritiert, jetzt kam es mir wertvoll und schüt­zens­wert vor. Ich dachte an die seltsame Möblie­rung bei Simke, die irgendwie zusammen gekommen ist, ohne irgend­etwas sein zu wollen. Ich dachte an die Monteure, die dort zu Abend essen, an die wenigen Radtou­risten und die Leute, die sonntags kommen und bescheiden bestellen, was die Karte hergibt.

Ich bin sicher, die Gastro­nomie in Branden­burg könnte besser sein. Aber das ist vergleichs­weise unwichtig. Wichtig ist, dass mit ihr nie etwas in Gang gebracht wird – Zukunft oder so etwas. Oder Aufwer­tung der Dorfbilder, der öffent­li­chen Räume oder derglei­chen mehr. Oder Anschluss­fä­hig­keit an kreative Lebens­stile. Mein Eindruck ist, dass sie dagegen, bis jetzt jeden­falls, im Großen und Ganzen recht gut gewappnet ist. Jeden­falls hoffe ich das. 

Ich dachte an die Schlach­te­platten, die es bei Simke gibt mit der Wurst­suppe, den Leber­würsten und Blutwürsten, die ich sehr schätze, und hatte die Vorstel­lung, die Creme­far­bene am Vintage-Terrassenstuhl festzu­binden und ihr eine Blutwurst tief in den Schlund zu schieben. Das bräche sie zum Schweigen. Und das wäre schön. Schön still. Ich dachte an Schnitzel auf Four und hatte plötzlich Lust darauf. 

Veröf­fent­licht auf Oderamazonas.de im Sept 2024