Verfluchtes Ding

Geschenke durch­bre­chen die Gesetze des fairen Tauschs

Ich war 17 Jahre alt, als ich begriff, dass Schenken nichts Wunder­bares ist. Das Geschenk behauptet, außerhalb des Kreis­laufs des Tauschens zu stehen. Es könnte damit der Sphäre des Paradie­si­schen angehören. Nicht umsonst schenkt man zum Weihnachts­fest, um die Geburt eines kindli­chen Erlösers zu feiern. Doch im Universum der Äquiva­lente ist das Geschenk ein verfluchtes Ding. Es ist das Geltend­ma­chen eines Anspruchs, nur auf tückische Art. Das Geschenk durch­bricht die Gesetze des fairen Tauschs nur insofern, als wir nicht in der Hand haben, wann und von wem wir es bekommen und was es kosten wird.

R. hatte mir ein Geschenk gemacht. Mit R. hatte ich schon zu lange zu viel Zeit verbracht, um ihn im Grunde genommen nicht für ein bisschen blöd zu halten. Ich schämte mich für R., weil er das Falsche anhatte, das Falsche las und eigent­lich auch meistens das Falsche sagte. Doch er hörte mir zu und ich mochte das Gefühl, verstanden zu werden. Er war viel zu alt für mich, und ich nahm ihn nirgendwo mit hin. Manchmal ärgerte ich mich über R., weil er sich anmaßte, sich ernsthaft Hoffnungen auf mich zu machen. Manchmal ärgerte ich mich auch über mich selbst. Heute hatte R. mir ein Geschenk angekün­digt. Seine Augen leuch­teten wie Kinder­augen in Erwartung großen Glücks, als er mich in das Zimmer führte, wo das Geschenk stand.

Im Licht, das durch das Fenster der Mansarde fiel, stand ein Segel­schiff, ein kleiner, eleganter Viermaster aus poliertem Holz. Sie hieß Mary Read, maß knapp eine Elle und ihre Segel schim­merten weiß. Ich hatte R. anver­traut, dass ich in Tagträumen wie die Freibeuter die Weltmeere besegelte, berauscht von der Hoffnung auf Beute, von der Gefahr und der offenen See. Mary Read kannte R. von mir. Sie hatte im 18. Jahrhun­dert als Piratin die Meere gekreuzt, hatte gekämpft und gemordet und salzigen Wind gerochen. Ich stellte mir vor, ich sei Mary, wenn ich zu Schau­plätzen meiner vielen Nieder­lagen unterwegs war, zum Sportfest, zu Feten und Geburts­tags­feiern. Wohl wissend, wie albern und kindisch dieses Kopfkino war. Denn ich sah mich tatsäch­lich auf gebleichten Schiffs­planken stehen, ein Fernrohr in der Hand, Blick zum Horizont, wie im schlechten Film.

R. hatte mein Vertrauen missbraucht. Länger als einen Monat hatte er in diesem Zimmer zugebracht, trotz mörde­ri­scher Sommer­hitze. Er hatte ein Kunstwerk geschaffen, Hölzchen gehobelt, fragile Planken verlegt, Segel genäht, die man setzen und einholen konnte. Von den Masten hingen feinste Strick­lei­tern mit winzigen Knoten herab. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie er das mit seinen groben Händen zuwege gebracht hatte. Ungezählte Stunden hatte er geschwitzt und keine Minute bereut, in Erwartung meiner Freude und Rührung. Ich wäre sanft und warm gewesen, sein Geschenk hätte mich zur Königin gemacht, zu seiner Piraten­kö­nigin. Mein Geheimnis war zu einer Holzar­beit geworden, durch seine Hände gefertigt. Ein ewiger Beweis, dass ich R. den Vertrauten meiner lächer­lichsten Weltflüchte hatte werden lassen. Als wären wir Bruder und Schwester, Liebende, oder beides zugleich. Wer Abgründe offenbart, baut auf Loyalität. Wer Lächer­lich­keit preisgibt, hält die Kehle hin. R. hatte einen Fetisch daraus gezimmert. Er hatte dieses Verhältnis dingfest gemacht. Als hätte ich mich je zu ihm bekannt!

Ich war fassungslos vor Wut. Welche Erpres­sung. Marys weiße Segel leuch­teten Hohn. Staub­flusen tanzten im Licht. Hätte ich die Wahl eines fairen Tauschs gehabt - Wochen seiner Handar­beit gegen Rührung, Bekenntnis, liebe Worte - ich hätte ohne zu zögern abgelehnt. Ein König­reich für ein Laden­regal, in das ich Mary nach Abwägen des Preis-Leistungsverhältnisses hätte zurück­stellen können. Doch Mary stand auf R.s Arbeits­tisch, der heute ein Gaben­tisch war. Ein Äquiva­lent, das stumm seine Gegen­leis­tung forderte. Ein fein gedrech­seltes troja­ni­sches Pferd. Ich sah es an. Es entlud seine Fracht. Hunderte kleine Krieger gingen von Bord.

R. stand irgendwie verloren in seiner Mansarde, mit immer noch unschuldig gewei­teten Augen. Er spürte wohl, dass meine Reaktion ein wenig zu lange ausblieb, doch er schien noch nicht bereit, zu zweifeln. Ich stand wie angewur­zelt, kochte und war zugleich zu keiner Regung fähig. Denn ich war gerührt. Ich bin doch kein Unmensch. Ich fühlte Schuld. Ich war hartherzig. Allein die Tatsache, dass er sich abgemüht hatte, bewies doch, wie leicht­fertig ich mit ihm umsprang. Wie hätte er wagen können, Wochen seiner Zeit für ein Holzding zu opfern, das er mir zu Füßen legte, wenn ich ihn nicht hätte glauben lassen, es sei die Sache wert? Wie konnte ich ihn so stehen lassen? R. sah mich nun doch fragend an. Ein liebes Gesicht, er zog die Augen­brauen hoch, was ihn noch argloser aussehen ließ.

Die Krieger umzin­gelten mich, legten mir einen Strick um den Hals und zogen daran. Ich hatte R. für einfältig gehalten, doch er war es nicht. Bestimmt nicht. Dieses maßlose, überdi­men­sio­nierte Geschenk sollte naiv wirken. Mit Unschuld­saugen wollte R. den Gegner entwaffnen. Die Spiel­re­geln der harmlosen Händler und Schacherer ad absurdum führen, durch Einfüh­rung des Prinzips des Guten. Mit unlau­teren Mitteln kämpfen, zu guter Letzt. R. sollte der Gute im Spiel sein. Und ich die Schlechte. Warte! Nicht mit mir! Ich schlag es dir in tausend Stücke. Dein erpres­se­ri­sches Machwerk aus Holz! Mir schossen die Tränen ins Gesicht, aus Mitleid mit mir, vielleicht auch aus Erschöp­fung. Das Ganze ging über meine Kräfte. Marys weiße Segel verschwammen. Ich spürte, wie ich das Spiel verlor. R. umarmte mich. Er flüsterte: Es ist alles gut.

Erschienen in der Freitag - 11. Dezember 2004