Wonne am Wühltisch

Das Ende der Waren­rausch­tempel und die Angst vor einer neuen Zeit. Ein Essay zur Kultur der Kaufhäuser

Passagen sind Häuser, welche keine Außen­seite haben - wie der Traum.“ Dieser Satz von Walter Benjamin galt den Pariser Passagen des 19. Jahrhun­derts. Doch er könnte auch gut zum Warenhaus passen. Die Kaufhaus­welt war immer eine Innenwelt. Sie beginnt mit Warmluft­ge­bläse am Eingang. Die Kaufhaus­welt wird bestimmt durch ihre Tempe­ratur, die sommers wie winters konstant bleibt, durch das allge­gen­wär­tige Licht der Neonröhren und durch das Gleichmaß der Bewegungen, das die Rolltreppen vorgeben. Ein Kaufhaus ist ein Innenraum, der sich in allen Städten gleicht. Wer im Kaufhaus steht, weiß nicht, ob er in Berlin, Hamburg oder in Stuttgart ist. Man befindet sich an einem Punkt in der Welt, der nicht räumlich zu verorten ist. Ein zugleich künst­li­cher und unendlich vertrauter Raum, der nirgendwo zu enden scheint. Wohin man sieht - unzählige Dinge, Edelstahl­töpfe, Quali­täts­pfannen, deren Beschich­tungen keinen Kratzer haben. Dinge, die sich in allen deutschen Städten gleichen. Und Menschen, die sich im Angesicht der Dinge gleichen. Am Ende stehen wir alle an der Kasse und unsere neuen Haarföne, Quali­täts­pfannen, blitz­blanken Edelstahl­töpfe kommen in die Karstadt­tüte. Dann gehen wir mit unseren Tüten durch das Warmluft­ge­bläse nach draußen, es ist wie im Traum. Fast, als wären wir alle gleich.

Jetzt verbindet man Karstadt und das Kaufhaus mit „Krise“ und Nieder­gang. Es klingt seltsam, weil die Worte nicht zusam­men­passen. Karstadt hört sich an wie: Heute ist Montag. Und Krise klingt wie Krieg, Hunger oder Schwarzer Freitag. Etwas Existen­zi­elles jeden­falls. Die Presse­stimmen verbinden die Schwie­rig­keiten des Unter­neh­mens mit seltsam aufge­la­denen Begriffen: dem Nieder­gang der Innen­städte, der Verödung des öffent­li­chen Raums, der Verein­sa­mung des Konsu­menten im Internet, der Geschichte der Bundes­re­pu­blik.

Die Krise der Waren­häuser ist ins Konver­sa­ti­ons­vo­ka­bular für Gespräche über den Zustand der Welt einge­gangen. Solche, die man beim Autofahren oder beim Kaffee­trinken führt. Die Menschen sind in Sachen Karstadt geteilter Ansicht. Die Teilung verläuft zwischen Ost und West. Mein Vater ist Westler. Er lebt in Stuttgart und verfolgte die Kaufhaus-Krisen-Nachrichten seit Jahren. Als ich ihn besuche, gehen wir bei Karstadt ein paar Schuhe kaufen, um den Umsatz anzukur­beln. Im Restau­rant trinken wir schließ­lich einen Kaffee, und mein Vater sagt mir, dass hier Stutt­garts einsame Rentner frühstü­cken. Karstadt sei eine Insti­tu­tion. Er weiß sogar, wo die Karstadt­grün­dungs­fi­liale ist, die erste, die es in Deutsch­land gab. Nämlich in Wismar, wo noch immer der Geldschrank von Herrn Rudolph Karstadt steht.

Der Vater meines Mannes lebt in Gera. Als über die Krise der Waren­häuser ein Beitrag im Fernsehen kam, hörte er sich wirklich wütend an. „Da redet jemand, als würde die Republik unter­gehen, weil Karstadt vielleicht pleite geht! Bei uns war alles pleite!“ 

Sind die Kaufhäuser ein Stück Kultur­ge­schichte? Oder schlicht eine Form der Distri­bu­tion von Waren? Warum die Aufregung, wenn die Leute schlicht andere Formen des Waren­er­werbs bevor­zugen?

Über die Frage der Waren­häuser wurde bereits debat­tiert, als ginge es um den Aufstieg oder den Nieder­gang von Kultur überhaupt, als die Tempel des Konsums in Deutsch­land noch kaum errichtet waren. Es war Ende des 19. Jahrhun­derts, Rudolph Karstadt, Abraham Wertheim und Leonhard Tietz hatten bereits erste kleinere Läden gegründet, doch am Handels­vo­lumen der Einzel­han­dels­be­triebe hielten sie einen Anteil von unter fünf Prozent. Das Prinzip - feste Preise, alles unter einem Dach - kam aus Frank­reich, wo es schon richtige Waren­häuser gab. Bon Marché war das erste gewesen. In Deutsch­land hing man weit hinterher. Dennoch verfassten Ökonomen und Geistes­ge­lehrte Abhand­lungen, die wechsel­weise eine neue Epoche, eine Verschwö­rung des jüdischen Kapitals oder den Untergang des Abend­landes kommen sahen. Als von „nahezu religiösem Eifer“ beflissen beschreibt der Histo­riker Detlef Briesen die sogenannte „Waren­haus­de­batte“.

Aus diesen Pamphleten sprach vor allem eins: Angst vor einer neuen Zeit. Was würde geschehen, wenn der kleine Mann in den Tempel der schönen Dinge eindringt? „Man betrete heutzu­tage die Wohnung eines besseren Arbeiters oder eines Unter­be­amten“, schreibt da ein Herr Steindamm 1904 in Beiträge zur Waren­haus­de­batte. Nichts mehr von der schlichten Beschei­den­heit einer Arbei­ter­woh­nung. Ein Nussbaum­pa­neel, eine Krone mit einer Majoli­kalampe, Farbdrucke, bemalte Teller, Terra­cot­ta­fi­guren, gar eine Säule aus schwarz poliertem Holz mit Apoll. Dies sei der kultu­relle Verdienst der Waren­häuser! Man sieht die Sittlich­keit und Moral in Gefahr. Es ist die Rede vom Kaufrausch, dem im Warenhaus vor allem junge Damen erliegen. Von weibli­cher Klepto­manie. Lange Beschrei­bungen in Romanen widmen sich der Fülle und den Verfüh­rungen der Waren: „Hier lag im vollen Glanz der Straße, ein wahrer Bergsturz billiger Waren, die Versu­chung zum Eintritt … das Geschäft schien zu bersten und seinen Überfluß auf die Straße zu werfen“ (Emile Zola in Au Bonheur des Dames). „Die Waren­häuser sind dem Rausch geweihte Tempel“, schreibt Walter Benjamin im Passa­gen­werk. Und: „Die Kunden fühlen sich als Masse. Sie werden mit dem Waren­lager konfron­tiert.“ Vielleicht war es gerade das Sinnliche und Sinnbild­liche am Warenhaus, das die Furcht vor einer neuen Zeit - vor der der Massen­kultur und des Massen­kon­sums - auf Wertheim, Tietz und Karstadt lenkte. Denn etwa zur gleichen Zeit entstanden als neue Handels­formen auch die ersten Filial­ge­schäfte und die Ketten Spar oder Edeka. Dennoch entspann sich nicht eine Filial­ge­schäfts­dis­kus­sion, sondern eine Waren­haus­de­batte. Sie währte bis in die fünfziger Jahre hinein, als sich das Blatt endlich wendete - und Karstadt wiederum zu einem Symbol werden sollte. Jedoch zu einem anderen.

Gemein­same deutsche Kultur­ge­schichte schrieben die Waren­häuser, als die SA vor ihnen aufmar­schierte, als es zum „Erlass gegen eine unerwünschte Betriebs­form“ kam, als Abraham Wertheim enteignet wurde. Karstadt war es verboten, Papier­fähn­chen mit Haken­kreuzen zu verkaufen. Man ließe diese ja auch nicht in Bordellen vertreiben, hieß es. Nach dem Krieg schenkte man vor den Kaufhäu­sern, die noch standen, Suppe aus. Die Regale füllten sich langsam wieder, mit den ersten Nachkriegs­waren. Eine Karstadt­fir­men­chronik berichtet von Kochtöpfen aus alten Stahl­helmen, die vorüber­ge­hend ins Sortiment aufge­nommen wurden. Dann teilte sich die Geschichte der Kaufhallen in Ost und West. Als die sowje­ti­sche Zone kam, packte Rudolph Karstadt seine Koffer und ging in den Westen. Seine Gründungs­fi­liale in Wismar blieb ohne ihn zurück und wurde zum HO-Geschäft.

Im Osten wurde bis 1958 auf Karten gekauft. Dann versprach Walter Ulbricht dem Volk, die BRD „einzu­holen und zu überholen“. Von einem „spezi­fisch sozia­lis­ti­schen Konsum­mo­dell“ war die Rede, das Volk sollte mithin via Konsum erzogen werden - Maß zu halten und dem Gebrauch vor dem Luxus den Vorrang zu geben. Die Waren wurden standar­di­siert, nach Plan verteilt und im Laden nach Menge und Sorte gestapelt. Die Ästhetik - eine der immer­wäh­rende Wieder­ho­lung der immer gleichen Produkte, nach formalen Gesichts­punkten geordnet. Das HO-Geschäft, stapel­ge­wor­dene Sachlich­keit, eine Halle der Strenge. Das Bekenntnis zum Massen­konsum war vorhanden - doch nicht zum lustvollen Stöbern. Kein Waren­fe­tisch. Kein „voller Glanz, Bergsturz billiger Waren, Versu­chung zum Eintritt“. In der DDR bestimmte den Eintritt die Notwen­dig­keit.

Anders im Westen. Hier wurde der Tempel des Konsums als solcher rehabi­li­tiert. Er wurde zur Kultstätte eines seltsam säkularen Glaubens - der Glaube daran, dass es gut war, nach allem was war, in gut beheizten Räumen hübsche Kleider, warme Jacken und neue Schuhe kaufen zu können. Dass es gut war, sich als Gesell­schaft zu etablieren, die als Masse nicht zu Aufmär­schen strömt, sondern in Massen die Tempel der unschul­digen Dinge besucht. Wie bei den Ameri­ka­nern, wo junge Damen im eigenen Auto vor noch größeren, moder­neren Kaufhäu­sern vorfuhren, leichte, beschwingte, praktisch denkende Damen. Die Waren­haus­de­batte wurde unter anderen Vorzei­chen weiter­ge­führt: Amerika stand im Westen nun für Läuterung, Deutsch­land solle sich zum Warenhaus bekennen, statt die „jüdische Betriebs­form“ zu verteu­feln. Mit schwang die Idee von der Gleich­heit vor den Konsum­gü­tern - dass nun alle einkaufen durften, habe ja letztlich auch mit Demokratie zu tun. Es war, als es bergauf ging, eine Wonne des Konsums. Die sündige Ware als Verfüh­rung des kleinen Mannes wird zum magischen Objekt, das für „Norma­lität“ steht. Über „Odol“ sagt eine junge Frau 1956: „Odol war für uns gleich­be­deu­tend mit Freiheit, mit fried­li­chen Werk- und Frühlings­tagen, gekacheltem Badezimmer und angenehmem Schlaf …“ (Otto Bodnár-Büchler in Wunder­same Welt der Marken­ar­tikel ). Sozio­logen verwenden den Begriff „Magie“ für die Wirkung der Marken von massen­haft verbrei­teten Artikeln. In Sozio­logie der Marke spricht Kai-Uwe Hellmann von einem Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl und ritua­li­siertem, gemein­schaft­li­chem Konsum. Dafür standen Karstadt, Hertie, Horten. Die Warmluft­ge­bläse an den Eingängen waren explizit erfunden worden, um die Hemmschwelle zum Eintritt herab­zu­setzen. Alle sollten hinein, in die Innenwelt der Kaufhäuser, gemeinsam in den Wühlkörben graben, in denen die Fetische der Norma­li­sie­rung zum sinnli­chen Erfassen bereit­lagen. Wasch­lappen, Kinder­so­cken, Büsten­halter - mitunter konnte man sich des Eindrucks kaum erwehren, den Leuten sei egal, in welcher Ware sie wühlten. Als Andreas Baader und Gudrun Ensslin 1968 gegen die zelebrierte Norma­lität protes­tieren wollten, trafen ihre Anschläge folge­richtig die Kaufhäuser.

Das Ende jener verdäch­tigen „Norma­lität“ stellte sich bald von selbst ein. Schon in der alternden BRD ging die Schere zwischen arm und reich ausein­ander, bröckelte die Idee der breiten Parti­zi­pa­tion am Wohlstand. Eine binnen­markt­ori­en­tierte Wirtschafts­po­litik schwenkte ins Konser­va­tive: Der kleine Mann als Verbrau­cher war nicht mehr wichtig, er musste um der gemein­samen Zukunft willen keine Wasch­ma­schinen mehr kaufen. Endgültig drehte sich der Wind mit der Verei­ni­gung, als die Gesell­schafts­ver­träge beider deutscher Staaten Makulatur wurden. Die Riten der alten BRD gehörten über Nacht einer vergan­genen Zeit an. Ihre Kaufhäuser standen noch - als Sinnbild des Massen­kon­sums. Doch nichts ist befremd­li­cher als ein Sinnbild, dessen Sinn erst kürzlich abhanden gekommen ist. Das Kaufhaus als gemein­schaft­lich erlebter Raum einer Konsum­kultur, die Lust an Wohlstands­gü­tern mit „Norma­lität“ und annähernder sozialer Gleich­heit verbinden will, war obsolet geworden. Wer heute ein Kaufhaus mit Warmluft­ge­bläse und Wühlti­schen betritt, spürt das instinktiv. Seine Besucher bewegen sich nicht mit jener munter rempelnden Sicher­heit, mit der sie lebendige Orte bevölkern. Sie treten ein, durch­messen den Raum mit großen Schritten, bleiben irgend­wann irritiert stehen, sehen sich um und suchen schon wieder einen Ausgang. Die Westler haben das unbestimmte Gefühl, einen alten Bekannten wieder zu treffen, mit dem irgend­etwas nicht mehr stimmt. Die Bürger der alten DDR hingegen langweilen schlecht­be­suchte Kaufhäuser. Sie wissen ohnehin längst, dass andere Zeiten kommen.

Das Ereignis des Massen­kon­sums ist längst weiter gezogen. Es gibt kein Fest des gemein­samen Aufstiegs mehr. Heute geht es darum, einen oder zwei Euro einzu­sparen, damit das Weniger im Porte­mon­naie weiter reicht - es geht um die Angst vor dem Abstieg. Und Abstieg ist nie ein gemein­sames Fest, sondern eine persön­liche, verschämte Angele­gen­heit. „Geiz ist geil“ ist nicht Wonne am Wühltisch, sondern hilflos ironisch verdrehter Ausdruck von Scham. Scheiß drauf, jetzt jagen wir Schnäpp­chen. Bei Aldi kauft man Wildlachs oder Champa­gner. Klamotten von H&M; kombi­niert man mit edlen Stücken von Gucci, wenn man es sich leisten kann. Wer Geiz geil findet, besucht nicht Karstadt, sondern streift durch die zahllosen Läden, die öffnen und schließen, Mac Geiz oder Ein-Euro-Shop heißen und viel billiger sind. Doch gesehen werden will man dort nicht. Die Angst vor sozialer Deklas­sie­rung verstärkt das Bedürfnis nach Distink­tion. Entspre­chend betonen die neuen Tempel des Konsums vor allem eins: Trennung und Exklu­si­vität. Und wer noch immer Karstadt heißt, tut so, als flanierten seine Besucher zwischen glitzernden Inseln - der Esprit-Insel, der Chanel-Insel, der Insel von Karl Lagerfeld. An jeder Ecke ein Schatz­käst­chen, eine Hoffnung, nur für mich allein. So versucht es das KaDeWe in Berlin – das ja eigent­lich ein Karstadt ist. Die Hallen des Mittel­maßes werden derweilen geschlossen.

Die Welt des Gleich­maßes, der Warmluft­ge­bläse der Wühlti­sche für alle ist zur Traumwelt geworden. In der wir alle fast einmal gleich gewesen wären. Wir Westler. So erinnern wir uns heute - und verklären die Sache ein bisschen. So wie man seine Kindheit verklärt, gerade wenn man Angst hat, vor einer neuen Zeit.

Erschienen in leicht verän­derter Form am 12. November 2004 in „der Freitag“, als Betrag zur damaligen Debatte über die Krise von Karstadt