Am Mittags­tisch

Zwischen immer blühenden künst­li­chen Blumen und Dickfleisch­ge­wächsen speisen junge, mittlere und alte Leute, die wissen, dass sie mitein­ander verbunden sind.

Die Kantine der Beeskower Spanplatte ist ein beson­derer Ort. Für Ortsfremde ist er kaum zu finden. Dieje­nigen, die hier essen, kennen ihn dafür gut. Sie wissen, wo er liegt, was er bereit­hält und weshalb er für sie kaum zu ersetzen wäre. Kartof­feln mit Quark oder Grütz­wurst gibt es hier immer. An Donners­tagen ist Fischtag, Am Freitag gibt es Schnitzel. Gegen 12 Uhr mittags, besonders an den Schnit­zel­tagen, ist hier Hochbe­trieb. Am Eingang geben sich Leute mit Warnweste und mit Rollator die Türklinke in die Hand. Wer glaubt, in Beeskow stünde die Gastro­nomie auf schwachen Beinen, irrt gewaltig.

Das Erfolgs­re­zept scheint einfach. Hausmanns­kost zu günstigen Preisen. Aber im Grunde ist es viel mehr. Früher gehörte die Kantine zum VEB Spanplat­ten­werk Beeskow. Ostbür­gern braucht man nicht zu sagen, was das bedeutet. Westbür­gern dagegen muss man das erklären: Ein Werk und seine Kantine waren weit mehr als ein Unter­nehmen und sein Firmen­re­stau­rant. Allein das Werk war ein eigener Kosmos. Mit einem Heizkraft­werk, einer Betriebs­schlos­serei, einer Tisch­lerei, einem Fuhrpark, Kinder­krippe und Kinder­garten. Stellt man sich das Werk wie ein Wesen mit vielen Armen vor, war die Kantine der Arm mit dem Kochlöffel. Sie kochte für alle: Babys, Kinder, Erwach­sene. Und jeder war vor ihr gleich. Es gab drei Essen: eins für 90 Pfennig, eins für 1,30 Mark und eine Suppe. Zum Nachtisch gab es Rote Grütze. Die Rote Grütze, erzählen die Gäste, war damals mit Gries.

Gerhard Kusay, ein taufri­scher Mann in seinen Siebzi­gern, führt die Kantine. Er macht das bereits seit 1975.

In den 70er und 80er Jahren musste die Kantine sicher­stellen, dass täglich rund 1.000 Menschen ihr Mittag­essen bekamen. Das war eine Heraus­for­de­rung. Die Mark Branden­burg ist eine Kartof­fel­kultur, erklärt mir Kusay. Ohne Kartof­feln geht nichts. Und damals, als die Leute noch keine Nudeln, sondern ausschließ­lich Kartof­feln aßen, ging ohne sie noch viel weniger. Also war es Kusays erste Aufgabe, Kartof­feln heran­zu­schaffen. 50 Tonnen Kartof­feln brauchte er zur Erntezeit, außerdem Weißkohl, Möhren, Zwiebeln. Aus diesen Zutaten bestand fast alles, was die Kantine kochte. Um all das herbei­zu­schaffen, hatte Kusay, ein Sozial­ta­lent, gute Bezie­hungen zu den Bauern aufgebaut. Die Erdfrüchte vom Beeskower Acker schälte in der Kanti­nen­küche ein Grüppchen schon älterer Damen. Die Kartof­fel­schalen wiederum bekamen die Schweine der LPG. Die Kantine, nicht anders als das Werk, muss man sich als ein hochkom­plexes System lokaler Kreis­läufe vorstellen. Sogar den Dampf der werks­ei­genen Heizkraft­an­lage nutzte man, – um in der Kanti­nen­küche das Essen zu garen.

An der Stirn­seite des Speise­saals hängt ein Wandbild, das heute einen gewissen Bekannt­heits­grad hat. Es zeigt das Landleben um Beeskow, eng verbunden mit dem Spanplat­ten­werk. Eine Dreifal­tig­keit. Rechts die Landwirt­schaft, verkör­pert durch gut genährte Leute bei der Feldar­beit, eine Frau im Büsten­halter ist unter ihnen, die sich tief über ein Gurken­beet beugt. In der Mitte Musikanten und Tanzende. Links die Produk­tion in Gestalt der Spanplatte. Das Bild ist bunt und burlesk. Dem Künstler, der damals im nah gelegenen Pfaffen­dorf lebte, dienten real existie­rende Pfaffen­dorfer LPG-Bauern als Modell. Andere, die darauf zu sehen sind, arbei­teten im Spanplat­ten­werk.

Als das Bild im Jahr 1986 aufge­hängt wurde, erzählt Gerhard Kusay, hätten die meisten Leute es abgelehnt. „Was?“, hätten sie gesagt, „So moppelig sehen wir aus?“ Heute ist das anders geworden. Dieselben Menschen mögen heute das Bild. Weil es noch da ist. Weil es zu ihnen gehört. Und weil sie sich rückwir­kend gern darin wieder­erkennen. „Mir gefällt, dass wir da drauf so schön dick und fröhlich aussehen“, sagt mir ein Gast, der gerade eine Kartoffel in Sauce zermatscht.

Das Dicke und Fröhliche hätte gut gepasst. Auch zu den Feiern, die in den Achtzi­gern in der Kantine statt­fanden. Speisen waren frei. Getränke auch. Kusay erzählt, pro Gast hätte man gut eine Flasche Schnaps kalku­liert.

Das Besondere an der Kantine ist, dass es diesen Ort, nachdem so viel aus der DDR verschwunden ist, noch gibt. Auf eine freund­liche und mensch­liche Art. Das bunte und anzüg­liche Bild. Das günstige und gehalt­volle Essen. Die Mitar­beiter, die schon seit Jahrzehnten zusam­men­ar­beiten. Die Zwang­lo­sig­keit bei allem. Zwischen immer blühenden künst­li­chen Blumen und Dickfleisch­ge­wächsen speisen junge, mittlere und alte Leute, die ohne viel mitein­ander reden zu müssen, wissen, dass sie mitein­ander verbunden sind. Die Gäste mit den Warnwessten sind Mitar­beiter der heutigen Spanplatte. Die Alten sind solche, die es früher einmal waren. Und weil das Werk so viel mehr war als nur ein Unter­nehmen, ist da ein ganzer Kosmos, der mit ihr verwoben war und es heute noch ist. Ihn gibt es noch. Und er isst Grütz­wurst zu Mittag. Ein Mann, der in den 1980er Jahren in den Werks­kin­der­garten ging, ist heute mit seinem kleinen Sohn zum Essen gekommen. Er hat Gyros auf dem Teller. Der Kleine auch. Ordent­lich, sagt der Vater, sei das Essen. Und das ist ein großes Lob.

Dass die Kantine ordent­lich ist, hat eine Menge damit zu tun, dass es Kusay und seinem Küchen­team nicht nur um Geld geht. Ihnen ist wichtig, Kartof­feln nach wie vor selbst zu kochen. Denn bei vorge­kochten Kartof­feln verändert sich die Stärke, und das taugte nichts. Das Fleisch bestellt das Küchen­team öfter bei der Landflei­scherei in Ranzig. Und an den Schnit­zel­tagen werden die Schnitzel vor Ort geschnitten und paniert.

„Es muss gut sein“, sagt Herr Kusay. Und es muss schmecken. Manches muss vor allem so schmecken wie es immer geschmeckt hat. Die Rote Grütze zum Beispiel. „Die Sache mit der Grütze ist verrückt“, sagt Herr Kusay. „Wir haben versucht zum Nachtisch so schicke Cremes zu servieren. Aber die Gäste wollen das nicht. Ob jung oder alt, wollen sie die Grütze so wie sie zu DDR-Zeiten geschmeckt hat. Am liebsten wäre ihnen Rote Grütze mit Gries.“

Erschienen im »kursbuch oder-spree« 2019