Die Zukunft von Dörfern ist gestaltbar.
Als ich Kind war, in den 1970er und 80er Jahren, wohnte ich in Oberfranken auf dem Land, und es kam mir ziemlich normal vor, dort aufzuwachsen. Eine Reihe von Dingen schienen Gewissheiten zu sein. Das eine war, dass es in Dörfern wie unserem ein Lebensmittelgeschäft, einen Arzt und einen gut erreichbaren Bahnanschluss gab. In den Mainwiesen konnte man im Schilf spielen, und meine Eltern sagten, im Leben würden sie NIE in die Großstadt ziehen. Warum auch, wir hatten dort alles. Per Bahn konnten wir stündlich in 15 Minuten die nächste Mittelstadt erreichen, mit Kneipen, Kultur und weiterführenden Schulen. Und Großstädte hatten damals noch den Ruf von Molochs, wo die Luft schlecht und gerade die Innenstädte in jeder Hinsicht problematisch waren: vergammelt, gefährlich und kriminell. Berlin zum Beispiel, vor allem Kreuzberg, wo meine Mutter Bekannte hatte und dort nichts anderes sah, als Dreck, Verfall und Tristesse.
Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich Bücher von Stadtsoziologen gelesen, die damals die Verödung der Innenstädte als quasi unumkehrbar beschrieben, da vor allem Familien notorisch ins Grüne zögen, um dort weiter die Landschaft zu zersiedeln, während die Stadtzentren weiter verrotten würden. Bedauerlich. Aber in unserem Denkhorizont etwa so unabänderlich wie dass täglich die Sonne auf- und unterging. Und dass knapp hinter unserem Dorf die „Zonengrenze“ lag. Hätte man uns gefragt, was wir von der Zukunft in etwa 30 Jahren erwarten, hätten wir gesagt: Sich verschärfende Spannungen zwischen Ost und West. Vielleicht auch einen Atomkrieg
Das alles ist jetzt mehr als 30 Jahre her. Und so ziemlich alles, was wir damals erwartet hatten, ist anders gekommen. Ein Atomkrieg hat zunächst nicht stattgefunden. Ost und West gibt es nicht mehr. In den 1990er Jahren zog ich nach Berlin, und erlebte, wie gerade die Orte, die als am verfallensten und hoffnungslosesten galten, entdeckt, renoviert und neu in Besitz genommen wurden. Brachgefallene Ladenlokale und Fabriken wurden dutzendweise zu Ateliers, angesagten Kulturorten und Partylocations, ich selbst betrieb mit Freunden in einer früheren Fleischerei die Redaktion einer neuen Stadtzeitung. Statt von der „Krise der Städte“, sprachen plötzlich alle von „Gentrificationprozessen“, von einem neuen Hype – und von immer mehr Leuten, die hier Wohnungen suchten.
Nur ein Jahrzehnt später hatten so viele Leute die Berliner Innenstadt als Place to be entdeckt, dass die neue Wohnungsnot Schlagzeilen machte. Und wir? Mich katapultiert die Entwicklung – nach 20 Jahren – zurück aufs Land. Diesmal nach Brandenburg.
Natürlich hatten wir, wie die meisten Städter heute, unsere Vorbehalte, aufs Land zu gehen. Denn nicht nur die Wertschätzung der Stadt hat sich geändert. Auch die des „Landlebens“ ist gründlich anders geworden. Vom Leben in Dörfern als einem üblichen Lebensentwurf ist es abgestiegen zu etwas Randständigem. Es ist so, als hätte ein Paternoster das eine – das Stadtleben – nach oben gezogen, während der Wert des anderen nach unten sank. War früher von der „Unwirtlichkeit der Städte“ die Rede, beschwören Soziologen und Journalisten heute die Unwirtlichkeit „des ländlichen Raums“. Prognosen erwarten, dass Prozesse von rückläufigen Geburten und Abwanderung sich stetig weiter fortsetzen – und zeichnen Szenarien von Räumen, die immer weiter veröden. Wenn vom Landleben die Rede ist, dann meist im Zusammenhang mit Berichten vom Sterben, vom Weggehen und dem doofen Rest, der bliebe. Und von der Unmöglichkeit, das Land „in der Tiefe“ mit Leistungen der Daseinsvorsorge zu unterhalten. Eigentlich rückt es meist nur dann ins Bewusstsein, wenn irgendwo ein Flüchtlingsheim brennt.
Sollte man als Städter den Mut haben, aufs Land zu ziehen, ist man nach heutigem Sprech ein „Raumpionier“, der den Leuten dort, die durch ihre Unkultur die Probleme auf dem Land nur noch schlimmer machen, ein bisschen auf die Sprünge hilft. Den schlechtesten Leumund von allen hat Brandenburg. Mit Rainald Grebe singt eine ganze Generation von Städtern: „Pack Stullen ein, wir fahr´n nach Brandenburg“. Kiefernwälder von der Anmut von Maisplantagen, Felder, topfeben wie Landebahnen. Und weit und breit nicht mal ein Gasthausschild.
Und da sind wir jetzt. Allen Vorbehalten zum Trotz, haben wir uns aufgemacht. Nach Brandenburg. Weil wir kaum glauben, uns das Leben in der Stadt auf lange Sicht leisten zu können, haben wir dasselbe getan, was wir schon einmal taten: Wir sind dorthin gegangen, wo es noch Räume gibt. Und die liegen heute eben „draußen“. Erst sind wir mit dem Immobilienscout und mit Google Maps durch die Landschaft navigiert. Dann sind wir hingefahren. Immer öfter. Und schließlich haben wir in einem Dorf namens Falkenberg bei Beeskow einen „Restbauernhof“ mit Scheune und Wiese gekauft. Die großen Felder fangen jetzt direkt hinter unserem Garten an. Dennoch erleben wir vor allem eins: nämlich Überraschungen.
Es ging schon damit los, dass wir erwartet hatten, im „leerlaufenden“ Brandenburg müssten die Häuser billig sein. Die Ansässigen wären froh, wenn sich einer ihrer erbarmte und freuten sich, sie dem Raumpionier für eins fuffzich zu überlassen. Leider stimmte das nicht. Wir mussten lange suchen, um ein eher kleines Haus zu finden. In den ersten Gartenzaungesprächen erfuhren wir, dass es überhaupt nur deshalb im „Immobilienscout“ gelandet war, weil sämtliche Ansässigen, die Interesse hatten, die Renovierung nicht stemmen konnten. Bestimmte alte Anwesen, gerade die romantischen mit der alten Substanz, werden fast immer an Städter verkauft. Denn kein anderer kann es sich leisten, an den Wochenenden in aller Ruhe erst mal ein Fundament trocken zu legen oder ein Fachwerk zu renovieren oder was immer. „Städterhäuser“ nennen die Dörfler diese Immobilien. Und so ein „Städterhaus“ haben wir jetzt.
Wir fingen an, an den Wochenenden das Fundament aufzugraben, entrümpelten die Scheune und überlegten, wie wir dort die Menschen mit einer Besenwirtschaft beglücken können. Einem Dorftreff. Einem temporären Kino vielleicht. An den Abenden saßen wir auf unserer Wiese, genossen die Luft und hatten zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, einen Platz gestalten zu können. Es fühlte sich gut an. Auch wenn das Feld, das hinter unserem Garten anfängt, so flach und endlos ist, wie es nur sein kann, fühlten wir uns in dieser Weite auf eine aufregende Weise lebendig.
Die nächste Überraschung betraf die Dörfler. Wir waren gerade dabei, in unserem neuen Garten Falläpfel zu sammeln, als mit großen Schritten ein Mann auf uns zu kam, der uns begrüßte und fragte, ob wir nachher zum Treffen im Dorfklub kämen. Wir gingen hin und stellten fest, dass es unsere Kulturidee eines Dorftreffs schon gab. Wie vielen Dörfer hatte auch Falkenberg bald nach 1990 seine Kneipe verloren. Weil ausreichend viele Anwohner aber weiterhin einen Treffpunkt haben wollten, bauten sie ein altes LPG-Wirtschaftsgebäude zur nichtkommerziellen Tanz- und Schankstube aus. Einer, der tischlern kann, zimmerte einen Tanzboden. Mobiliar sammelten die Gründer aus LPG-Beständen zusammen. Den Style der Lokation könnte man „Vintage“ nennen.
Wir hatten erwartet, auf dem Land sozial wie kulturell eine ziemliche Ödnis vorzufinden. Als neue Städter im Dorf changierten unsere Erwartungen zwischen der Furcht, als Fremde verstoßen zu werden und der Hoffnung, ein wenig Entwicklungshilfe leisten zu können. Stattdessen saßen wir nun am Tresen eines selbstorganisierten Kommunikationsraums, ein Ofen bullerte, und unser neuer Nachbar, der zugleich Dorfvorsteher ist, erzählte uns, wie die Falkenberger ihr Gemeinwesen organisieren. Obwohl das Dorf nicht mehr als 200 Einwohner zählt, gelingt es seinen Bewohnern, fünf Vereine, darunter eine freiwillige Feuerwehr und den „Dorfklub“ zu unterhalten. Mit Tanzabenden, selbstgemachtem Essen und Public Viewings. Gemessen an der Einwohnerzahl engagieren sich vermutlich mehr Falkenberger für das lokale öffentliche Leben, als es Kreuzberger für ihr Viertel tun. Und statt uns zu verstoßen, sind fast alle im Ort ziemlich nett zu uns. Unser neuer Nachbar, der Dorfvorsteher, kriegt es an manchen Tagen hin, am Morgen, wenn wir im Garten den Frühstückstisch decken, frische Brötchen und Eier über den Zaun zu reichen. Die Eier sind natürlich Bio. Direkt aus dem Nest geholt. Wir haben uns lange nirgendwo mehr so willkommen gefühlt.
Eine weitere Überraschung war: Wir sind keine Aliens. Falkenberg liegt 90 Kilometer von Berlin entfernt. Es ist zu weit draußen, um zum Speckgürtel zu zählen, und es ist nicht landschaftsschön genug, um pittoresk zu sein. Es hat einen hübschen Dorfanger mit ein paar wenigen historischen Häusern und Feldsteinscheunen. Alles andere ist Rauputz und Fertighaus. Falkenberg ist kein Stadtflüchteridyll. Dennoch sind Städter im Dorf eine recht normale Erscheinung. Etwa ein Drittel des Dorfes besteht aus Zugezogenen, die aus Berlin, aus Dresden und sogar aus Malmö stammen. Die meisten sind irgendwann in den letzten Jahren hierhergekommen, weil das Leben hier ruhig und vergleichsweise billig ist. Ein Professorenpaar ist dabei und eine mittelbekannte Schauspielerin. Aber die meisten sind Leute, die in Berufen wie Türen- und Fensterbau oder im Supermarkt an der Kasse arbeiten. Seine Hauptaufgabe sieht unser Nachbar, der Dorfvorsteher darin, diese Leute ins Dorf zu integrieren. Er nimmt sie persönlich zu den Dorffesten mit. Macht sie mit denen bekannt, die schon da sind. Macht klar, wie essentiell es ist, sich in Dörfern wie unserem in der Feuerwehr zu engagieren. Oder im „Dorfklub“. Die geforderten Anpassungsleistungen scheinen bei den Zugezogenen dabei nicht größer oder kleiner, als bei den Hiesigen zu sein. Und im Großen und Ganzen klappt das nicht schlecht.
Je länger wir „draußen“ sind, desto deutlicher merken wir: Wie ländliche Gemeinwesen sich entwickeln, hängt von denen ab, die sie gestalten. Es gibt kleine Dörfer, denen es gelingt, trotz geringer Besetzung recht vital zu sein. Hätte unser Dorfvorsteher vor etwa zehn Jahren verpasst, in dem langsam überalterndem Dorf etwas Bauland auszuweisen – und Zuzüglern das Gefühl zu geben, willkommen zu sein –, vermutlich würde Falkenberg bald nur noch für das Essen-Rädern-Mobil ein Anlaufpunkt sein. Dabei ist unser Dorfvorsteher kein Zauberer. Er ist ein sehr bodenständiger Mann, der davon lebt, Staubsauger zu verkaufen, Hühner zu halten, Spanferkel zu rösten – und vor allem: Schlüsselfigur einer ganzen Reihe von zwischenmenschlichen Beziehungen zu sein. Solche Schlüsselfiguren sind wichtig.
Das können Hiesige sein ebenso wie Neuankömmlinge, die in anderen Dörfern, die wir inzwischen kennen, Unternehmungen in Gang bringen, die Gemeinwesen stärken. Dabei kann durch Einzelne mehr entstehen, als man für möglich hält. Im Dörfchen Wallmow bei Angermünde zum Beispiel fanden einige „Stadtaussteiger“ einen Ort mit einigem Leerstand und einer recht alten Bewohnerschaft vor. Sie brachten einen Hof in Ordnung und gründeten eine „Dorfschule“ mit sechs Klassen. Der Effekt war enorm. Bekannte der Gründer zogen hinterher, weil Wallmow für sie interessant wurde. Damit wuchs auch das Schulprojekt – und um es herum entstanden weitere Aktivitäten. Bald gab es in Wallmow einen Lehrgarten, Sportangebote, eine Jugendkunstschule, außerdem Bands, Theater und einen Posaunenchor. Die Dorfbevölkerung wuchs um etwa ein Viertel. Es gab wieder Kinder im Dorf – und zwar etliche. Die Wallmower haben ein funktionierendes Gemeinwesen geschaffen – an dem es auch Kritik gibt, aber das steht auf einem anderen Blatt. Dazu bedurfte es – wie in Falkenberg – einiger aktiver Schlüsselfiguren, einer ganzen Kette von zwischenmenschlichen Beziehungen und beachtlicher Integrationsleistungen.
Das frappierende ist, dass in nächster Nähe zueinander Dörfer existieren, die so öde sind, dass als einziges Zeichen dafür, dass hier überhaupt jemand lebt, hinter Gardinen bläulich die Lichter von Fernsehern flackern. Und solche, denen es gelingt, zu Orten zu werden, an denen Landleben seine besonderen Qualitäten hat. Beides ist möglich. Und beides hängt von Akteuren ab. Orte sind, was Menschen bereit sind, in ihnen zu sehen. Wallmow war – nicht anders als Falkenberg – nichts weiter, als ein gewöhnlicher Ort in Brandenburg.
Und auch das gibt es: Orte, an denen die Gemeinwesen derart erodieren, dass Strukturen wie die Jugendarbeit oder die freiwilligen Feuerwehren leichte Beute für Neonazis werden. Wo das passiert, ist es schwer, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Umgekehrt entstehen, wo ländliche Gemeinschaften positive Impulse setzen, positive Dynamiken. Wo Leben ist, kommt mehr Leben. Projekte von Einzelnen bilden wie Pilzmycele weitverzweigte Geflechte. Wo Leute Biohöfe, Schulen, Theater, Bildungsorte gründen, kann das langfristig ganze Gegenden verändern.
Nichts ist so falsch wie die Vorstellung, dass es da den-ländlichen-Raum-ganz-weit-draußen gibt, ein Brandenburg, das gleichmäßig vor sich hin stirbt. Kaum eine Gegend, die ich entdecke, offenbart sich aus der Nähe betrachtet als heterogener, gestaltbarer und hinsichtlich ihrer Zukunft offen.
Sogar Schönheit gibt es. Auch in Brandenburg. Seit wir öfter dort bleiben, fängt die Fläche an, Höhen und Tiefen zu gewinnen. Mit der Landschaft in Brandenburg ist es wie mit dem Dorfleben. Ihre Besonderheit zeigt sie dem, der sich hineinbegibt. Das Land bekommt plötzlich Kontur. Wir unterscheiden das Hochplateau, auf dem unser Dorf liegt von der Niederung, die wenige Kilometer weiter abfällt. Wir haben einen Wasserlauf entdeckt, wo es Schilf gibt und Kraniche. Unsere Freunde sagen: „Krass schön hier, sieht aus, wie in Kanada.“ Wir sagen: „Nein, wie in Brandenburg.“ Dann packen wir unsere Stullen aus. Oder wir wandern weiter, bis in den nächsten Ort, wo Stadtflüchter, die früher im Berliner Sage Club - Restaurant kochten, ein Gasthaus mit Essen aus regionalen Produkten eröffnet haben.
Könnte es sein, dass es den ländlichen Räumen heute ähnlich ergeht wie Kreuzberg vor 30 Jahren? Wie den „verödenden“ Innenstädten, bevor man erkannte, dass deren Dynamik sich drehen kann? Und sich schlussendlich wendete? Ähnlich wie damals, schreiben heute Analytiker einem Raum – dem Land – nur einen höchst begrenzten Spielraum möglicher Entwicklungen zu. Und der ergibt sich aus dem, was in der Vergangenheit geschah. Nicht aus dem, was werden kann. Übersehen wird, was Menschen aus Räumen machen können. Kein Ort ist „an sich“ so oder so. Ob er als „öde“ wahrgenommen wird oder als „unwirtlich“, ist jeweils nur eine Momentaufnahme. Und wohin Menschen sich in der Zukunft bewegen, hängt von Faktoren ab, die zu bestimmten Zeitpunkten gar nicht abzusehen sind. Allerdings hat es Folgen, wenn man Gegenden dauerhaft zu aufgegeben Zonen erklärt. Denn auch wenn Orte gestaltbar sind, sie befinden sich nicht im luftleeren Raum.
Wo Dörfer positive Dynamiken entfalten, ist Stadt- und Landleben oft eng miteinander verzahnt. Dass Dörfer wie unseres keineswegs „leerlaufen“ liegt daran, dass es Zuzüge gewinnt. Denn einerseits werden, wie fast überall in Europa, weniger Babys als noch vor 50 Jahren geboren. Dazu kommt, dass die Landwirtschaft nur noch wenige Menschen ernährt. Eine viel größere Bedeutung gewinnt daher die Frage, wie gut Orte angebunden sind. Dabei sind Verkehrswege ebenso so wichtig wie schnelles Internet. Jene etwa, die im Nachbarort die Gastwirtschaft mit den regionalen Produkten betreiben, könnten aus deren Umsatz keineswegs ihr Auskommen bestreiten. Ihre ökonomische Basis ist Web-Marketing. Das Dorfleben wird für sie erst durch digitale Verbindungen möglich. Nicht anders geht es international vernetzten Kulturschaffenden mit ländlichen Standorten.
Wobei damit nicht gesagt sein soll, dass sich das physische Wirtschaftsleben auf dem Land aufgelöst hätte. In Falkenberg arbeiten durchaus einige Menschen in Betrieben und Geschäften der umliegenden Gemeinden. Dass auf dem Land überall nur „Garnichts“ wäre, ist eine Großstadtkinderphantasie. Aber rund ein Viertel der Anwohner pendelt zum Arbeiten in mittlere Städte oder nach Berlin. Wobei wir in Falkenberg das Glück haben, dass in den Nachwendejahren, als im Spareifer viele Regionalzüge abgebaut wurden, ausgerechnet jene Linie vergessen wurde, die unser Nachbardorf mit Berlin verbindet. Wir können durch die Felder radeln und die Bahn nehmen, wenn wir beruflich nach Berlin müssen, was regelmäßig geschieht. Etwas schneller ist, wer im 20 Kilometer entfernten Fürstenwalde den Zug besteigt. Es gibt Leute, die mit dem Auto dorthin fahren und dann per Schiene in einer halben Stunde die Berliner Stadtmitte erreichen.
Noch vor zehn Jahren hätte man so eine Strategie, Wohnen und Arbeit zu verbinden, für exotisch gehalten. Heute erscheint sie machbar. Noch vor zehn Jahren hat auch niemand vorhergesehen, dass Berlin so stark wachsen würde, dass Menschen, die hier arbeiten, aus mehreren Gründen weiter entfernte Wohnorte wählen. Der eine ist schlicht ein Verdrängungsprozess. Der andere ist: Die Großstadt wird voll. Die U-Bahnen, die Parks, die Straßen. Es schnürt einem förmlich die Luft ab. Die jahrelang anhaltende „Landflucht“ hat dazu geführt, dass die großen Städte vor lauter Menschen mit städtischem Lebensentwurf förmlich überquellen. Und das, was zumindest wir am Leben in den Altstädten einmal schätzten, nämlich dass sie Gestaltungsräume boten, schafft sich seit dem Run auf die großen Städte selber ab.
Viele Menschen werden in naher Zukunft dem Leben in den großen Städten den Rücken kehren – und wieder aufs Land gehen. Das ist eine steile These. Aber mehr und mehr glauben wir, dass sie zutrifft. In unserem Freundeskreis ploppt es in letzter Zeit immer öfter auf: Irgendwer ist wieder dabei, sich „draußen“ etwas zu suchen. Packt Brote ein, fährt nach Brandenburg. Die Hemmschwellen sinken, denn viele kennen schon andere, die bereits „draußen“ sind. Die einen suchen Höfe, mit Platz für Seminarräume oder Praxen, Ateliers oder Studios. Andere sind in ihren Jobs fest mit der Stadt verbunden und suchen Wohnprojekte. Oder ein Häuschen zu zweit. Nicht nur Idyllen sind gefragt. Kürzlich kauften Bekannte von uns als Gruppe einen ländlichen Plattenbau. Wir übertrieben, hält man uns entgegen. Nur weil wir gerade Platz und Gestaltungsräume nicht mehr in der Stadt, sondern auf dem Land finden, hieße das noch lange nicht, relevante Teile der Bevölkerung würden bald dasselbe zu tun. Nur weil wir dort, wo andere nur Tristesse sehen, einen spannenden Raum entdecken, hieße das längst nicht, die Wahrnehmung des Landlebens insgesamt würde sich ändern. Wir glauben schon.
Das DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsförderung hat im Sommer diesen Jahres Zahlen vorgelegt, nach denen der Inlandwanderungssaldo der sieben größten deutschen Städte seit 2014 negativ ist. Einfacher ausgedrückt heißt das: Der Trend, dass in Deutschland mehr Menschen in die großen Städte ziehen, als aus ihnen abwandern, hat sich in den vergangenen zwei Jahren umgekehrt. Der Forscher Konstantin Kholodilin hat dazu Zahlen des Statistischen Bundesamts ausgewertet – und wirft die Frage auf, ob sie das Ende der Landflucht markieren könnten. Was nicht heißt, dass die Großstädte schrumpfen würden. Im Gegenteil. Sie wachsen weiter, nur sind die Quelle dieses Wachstums inzwischen hauptsächlich Zuzüge aus dem Ausland. Die Inlandswanderungen dagegen schlagen inzwischen zu Ungunsten der Metropolen zu Buche. Hamburg verliert Einwohner an Schleswig-Holstein. Frühere Berliner ziehen nach Brandenburg. Immobilienmakler erwarten seither Renditen von bis zu 18 Prozent in kleineren Städten Brandenburgs – wie in Eberswalde zum Beispiel. Vor fünf Jahren noch wurde Eberswalde als schrumpfendes Landstädtchen gehandelt, dem man allenfalls zutraute, durch hohe Leerstandszahlen zu punkten. Bemerkenswert dabei ist: Nur solche Orte sind wieder „angesprungen“, die noch über einen Bahnanschluss verfügen.
In Gegenden, die die Prognosen für Raumentwicklung längst abgeschrieben haben, ist vieles möglich. Vor allem ist jederzeit möglich, dass sich sehr schnell ein paar Vorzeichen ändern und Lebensräume, die als obsolet galten, wieder benötigt werden. Dass sie wieder Interessenten finden. Sogar aufblühen. Voraussetzung ist, dass sie weiterhin erreichbar sind und Bildungssysteme und ärztliche Versorgung funktionieren. Sprich: die „Daseinsvorsorge“, von der wie beim Rosenkranzbeten in dauernden Wiederholungen behauptet wird, sie sei „in der Tiefe des Raums“ nicht finanzierbar. Und mehr noch: Wer nicht defensive, sondern gestaltende Entwicklungspolitik betreiben will, sollte die infrastrukturelle und technische Anbindung nach heutigen Standards ausbauen. Erschließen statt aufgeben. Denn die ländlichen Räume werden gebraucht. Nicht nur für Windräder. Die Bedingungen, sie in Zukunft bewohnen zu können, werden heute geschaffen.
Erschienen in: „Neuland Gewinnen, die Zukunft von Ostdeutschland gestalten”, Christoph Links Verlag, 2017