Landleben wird von Leuten gemacht

Die Zukunft von Dörfern ist gestaltbar.

Als ich Kind war, in den 1970er und 80er Jahren, wohnte ich in Oberfranken auf dem Land, und es kam mir ziemlich normal vor, dort aufzu­wachsen. Eine Reihe von Dingen schienen Gewiss­heiten zu sein. Das eine war, dass es in Dörfern wie unserem ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, einen Arzt und einen gut erreich­baren Bahnan­schluss gab. In den Mainwiesen konnte man im Schilf spielen, und meine Eltern sagten, im Leben würden sie NIE in die Großstadt ziehen. Warum auch, wir hatten dort alles. Per Bahn konnten wir stündlich in 15 Minuten die nächste Mittel­stadt erreichen, mit Kneipen, Kultur und weiter­füh­renden Schulen. Und Großstädte hatten damals noch den Ruf von Molochs, wo die Luft schlecht und gerade die Innen­städte in jeder Hinsicht proble­ma­tisch waren: vergam­melt, gefähr­lich und kriminell. Berlin zum Beispiel, vor allem Kreuzberg, wo meine Mutter Bekannte hatte und dort nichts anderes sah, als Dreck, Verfall und Tristesse.

Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich Bücher von Stadt­so­zio­logen gelesen, die damals die Verödung der Innen­städte als quasi unumkehrbar beschrieben, da vor allem Familien notorisch ins Grüne zögen, um dort weiter die Landschaft zu zersie­deln, während die Stadt­zen­tren weiter verrotten würden. Bedau­er­lich. Aber in unserem Denkho­ri­zont etwa so unabän­der­lich wie dass täglich die Sonne auf- und unterging. Und dass knapp hinter unserem Dorf die „Zonen­grenze“ lag. Hätte man uns gefragt, was wir von der Zukunft in etwa 30 Jahren erwarten, hätten wir gesagt: Sich verschär­fende Spannungen zwischen Ost und West. Vielleicht auch einen Atomkrieg

Das alles ist jetzt mehr als 30 Jahre her. Und so ziemlich alles, was wir damals erwartet hatten, ist anders gekommen. Ein Atomkrieg hat zunächst nicht statt­ge­funden. Ost und West gibt es nicht mehr. In den 1990er Jahren zog ich nach Berlin, und erlebte, wie gerade die Orte, die als am verfal­lensten und hoffnungs­lo­sesten galten, entdeckt, renoviert und neu in Besitz genommen wurden. Brach­ge­fal­lene Laden­lo­kale und Fabriken wurden dutzend­weise zu Ateliers, angesagten Kultur­orten und Party­lo­ca­tions, ich selbst betrieb mit Freunden in einer früheren Fleischerei die Redaktion einer neuen Stadt­zei­tung. Statt von der „Krise der Städte“, sprachen plötzlich alle von „Gentri­fi­ca­ti­on­pro­zessen“, von einem neuen Hype – und von immer mehr Leuten, die hier Wohnungen suchten.
 Nur ein Jahrzehnt später hatten so viele Leute die Berliner Innen­stadt als Place to be entdeckt, dass die neue Wohnungsnot Schlag­zeilen machte. Und wir? Mich katapul­tiert die Entwick­lung – nach 20 Jahren – zurück aufs Land. Diesmal nach Branden­burg.

Natürlich hatten wir, wie die meisten Städter heute, unsere Vorbe­halte, aufs Land zu gehen. Denn nicht nur die Wertschät­zung der Stadt hat sich geändert. Auch die des „Landle­bens“ ist gründlich anders geworden. Vom Leben in Dörfern als einem üblichen Lebens­ent­wurf ist es abgestiegen zu etwas Randstän­digem. Es ist so, als hätte ein Pater­noster das eine – das Stadt­leben – nach oben gezogen, während der Wert des anderen nach unten sank. War früher von der „Unwirt­lich­keit der Städte“ die Rede, beschwören Sozio­logen und Journa­listen heute die Unwirt­lich­keit „des ländli­chen Raums“. Prognosen erwarten, dass Prozesse von rückläu­figen Geburten und Abwan­de­rung sich stetig weiter fortsetzen – und zeichnen Szenarien von Räumen, die immer weiter veröden. Wenn vom Landleben die Rede ist, dann meist im Zusam­men­hang mit Berichten vom Sterben, vom Weggehen und dem doofen Rest, der bliebe. Und von der Unmög­lich­keit, das Land „in der Tiefe“ mit Leistungen der Daseins­vor­sorge zu unter­halten. Eigent­lich rückt es meist nur dann ins Bewusst­sein, wenn irgendwo ein Flücht­lings­heim brennt.

Sollte man als Städter den Mut haben, aufs Land zu ziehen, ist man nach heutigem Sprech ein „Raumpio­nier“, der den Leuten dort, die durch ihre Unkultur die Probleme auf dem Land nur noch schlimmer machen, ein bisschen auf die Sprünge hilft. Den schlech­testen Leumund von allen hat Branden­burg. Mit Rainald Grebe singt eine ganze Genera­tion von Städtern: „Pack Stullen ein, wir fahr´n nach Branden­burg“. Kiefern­wälder von der Anmut von Maisplan­tagen, Felder, topfeben wie Lande­bahnen. Und weit und breit nicht mal ein Gasthaus­schild.

Und da sind wir jetzt. Allen Vorbe­halten zum Trotz, haben wir uns aufge­macht. Nach Branden­burg. Weil wir kaum glauben, uns das Leben in der Stadt auf lange Sicht leisten zu können, haben wir dasselbe getan, was wir schon einmal taten: Wir sind dorthin gegangen, wo es noch Räume gibt. Und die liegen heute eben „draußen“. Erst sind wir mit dem Immobi­li­en­scout und mit Google Maps durch die Landschaft navigiert. Dann sind wir hinge­fahren. Immer öfter. Und schließ­lich haben wir in einem Dorf namens Falken­berg bei Beeskow einen „Restbau­ernhof“ mit Scheune und Wiese gekauft. Die großen Felder fangen jetzt direkt hinter unserem Garten an. Dennoch erleben wir vor allem eins: nämlich Überra­schungen.

Es ging schon damit los, dass wir erwartet hatten, im „leerlau­fenden“ Branden­burg müssten die Häuser billig sein. Die Ansäs­sigen wären froh, wenn sich einer ihrer erbarmte und freuten sich, sie dem Raumpio­nier für eins fuffzich zu überlassen. Leider stimmte das nicht. Wir mussten lange suchen, um ein eher kleines Haus zu finden. In den ersten Garten­zaun­ge­sprä­chen erfuhren wir, dass es überhaupt nur deshalb im „Immobi­li­en­scout“ gelandet war, weil sämtliche Ansäs­sigen, die Interesse hatten, die Renovie­rung nicht stemmen konnten. Bestimmte alte Anwesen, gerade die roman­ti­schen mit der alten Substanz, werden fast immer an Städter verkauft. Denn kein anderer kann es sich leisten, an den Wochen­enden in aller Ruhe erst mal ein Fundament trocken zu legen oder ein Fachwerk zu renovieren oder was immer. „Städter­häuser“ nennen die Dörfler diese Immobi­lien. Und so ein „Städter­haus“ haben wir jetzt.

Wir fingen an, an den Wochen­enden das Fundament aufzu­graben, entrüm­pelten die Scheune und überlegten, wie wir dort die Menschen mit einer Besen­wirt­schaft beglücken können. Einem Dorftreff. Einem tempo­rären Kino vielleicht. An den Abenden saßen wir auf unserer Wiese, genossen die Luft und hatten zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, einen Platz gestalten zu können. Es fühlte sich gut an. Auch wenn das Feld, das hinter unserem Garten anfängt, so flach und endlos ist, wie es nur sein kann, fühlten wir uns in dieser Weite auf eine aufre­gende Weise lebendig.

Die nächste Überra­schung betraf die Dörfler. Wir waren gerade dabei, in unserem neuen Garten Falläpfel zu sammeln, als mit großen Schritten ein Mann auf uns zu kam, der uns begrüßte und fragte, ob wir nachher zum Treffen im Dorfklub kämen. Wir gingen hin und stellten fest, dass es unsere Kultur­idee eines Dorftreffs schon gab. Wie vielen Dörfer hatte auch Falken­berg bald nach 1990 seine Kneipe verloren. Weil ausrei­chend viele Anwohner aber weiterhin einen Treff­punkt haben wollten, bauten sie ein altes LPG-Wirtschaftsgebäude zur nicht­kom­mer­zi­ellen Tanz- und Schank­stube aus. Einer, der tischlern kann, zimmerte einen Tanzboden. Mobiliar sammelten die Gründer aus LPG-Beständen zusammen. Den Style der Lokation könnte man „Vintage“ nennen.

Wir hatten erwartet, auf dem Land sozial wie kulturell eine ziemliche Ödnis vorzu­finden. Als neue Städter im Dorf changierten unsere Erwar­tungen zwischen der Furcht, als Fremde verstoßen zu werden und der Hoffnung, ein wenig Entwick­lungs­hilfe leisten zu können. Statt­dessen saßen wir nun am Tresen eines selbst­or­ga­ni­sierten Kommu­ni­ka­ti­ons­raums, ein Ofen bullerte, und unser neuer Nachbar, der zugleich Dorfvor­steher ist, erzählte uns, wie die Falken­berger ihr Gemein­wesen organi­sieren. Obwohl das Dorf nicht mehr als 200 Einwohner zählt, gelingt es seinen Bewohnern, fünf Vereine, darunter eine freiwil­lige Feuerwehr und den „Dorfklub“ zu unter­halten. Mit Tanzabenden, selbst­ge­machtem Essen und Public Viewings. Gemessen an der Einwoh­ner­zahl engagieren sich vermut­lich mehr Falken­berger für das lokale öffent­liche Leben, als es Kreuz­berger für ihr Viertel tun. Und statt uns zu verstoßen, sind fast alle im Ort ziemlich nett zu uns. Unser neuer Nachbar, der Dorfvor­steher, kriegt es an manchen Tagen hin, am Morgen, wenn wir im Garten den Frühstücks­tisch decken, frische Brötchen und Eier über den Zaun zu reichen. Die Eier sind natürlich Bio. Direkt aus dem Nest geholt. Wir haben uns lange nirgendwo mehr so willkommen gefühlt.

Eine weitere Überra­schung war: Wir sind keine Aliens. Falken­berg liegt 90 Kilometer von Berlin entfernt. Es ist zu weit draußen, um zum Speck­gürtel zu zählen, und es ist nicht landschafts­schön genug, um pittoresk zu sein. Es hat einen hübschen Dorfanger mit ein paar wenigen histo­ri­schen Häusern und Feldstein­scheunen. Alles andere ist Rauputz und Fertig­haus. Falken­berg ist kein Stadt­flüch­ter­idyll. Dennoch sind Städter im Dorf eine recht normale Erschei­nung. Etwa ein Drittel des Dorfes besteht aus Zugezo­genen, die aus Berlin, aus Dresden und sogar aus Malmö stammen. Die meisten sind irgend­wann in den letzten Jahren hierher­ge­kommen, weil das Leben hier ruhig und vergleichs­weise billig ist. Ein Profes­so­ren­paar ist dabei und eine mittel­be­kannte Schau­spie­lerin. Aber die meisten sind Leute, die in Berufen wie Türen- und Fensterbau oder im Super­markt an der Kasse arbeiten. Seine Haupt­auf­gabe sieht unser Nachbar, der Dorfvor­steher darin, diese Leute ins Dorf zu integrieren. Er nimmt sie persön­lich zu den Dorffesten mit. Macht sie mit denen bekannt, die schon da sind. Macht klar, wie essen­tiell es ist, sich in Dörfern wie unserem in der Feuerwehr zu engagieren. Oder im „Dorfklub“. Die gefor­derten Anpas­sungs­leis­tungen scheinen bei den Zugezo­genen dabei nicht größer oder kleiner, als bei den Hiesigen zu sein. Und im Großen und Ganzen klappt das nicht schlecht.

Je länger wir „draußen“ sind, desto deutli­cher merken wir: Wie ländliche Gemein­wesen sich entwi­ckeln, hängt von denen ab, die sie gestalten. Es gibt kleine Dörfer, denen es gelingt, trotz geringer Besetzung recht vital zu sein. Hätte unser Dorfvor­steher vor etwa zehn Jahren verpasst, in dem langsam überal­terndem Dorf etwas Bauland auszu­weisen – und Zuzüglern das Gefühl zu geben, willkommen zu sein –, vermut­lich würde Falken­berg bald nur noch für das Essen-Rädern-Mobil ein Anlauf­punkt sein. Dabei ist unser Dorfvor­steher kein Zauberer. Er ist ein sehr boden­stän­diger Mann, der davon lebt, Staub­sauger zu verkaufen, Hühner zu halten, Spanferkel zu rösten – und vor allem: Schlüs­sel­figur einer ganzen Reihe von zwischen­mensch­li­chen Bezie­hungen zu sein. Solche Schlüs­sel­fi­guren sind wichtig.

Das können Hiesige sein ebenso wie Neuan­kömm­linge, die in anderen Dörfern, die wir inzwi­schen kennen, Unter­neh­mungen in Gang bringen, die Gemein­wesen stärken. Dabei kann durch Einzelne mehr entstehen, als man für möglich hält. Im Dörfchen Wallmow bei Anger­münde zum Beispiel fanden einige „Stadt­aus­steiger“ einen Ort mit einigem Leerstand und einer recht alten Bewoh­ner­schaft vor. Sie brachten einen Hof in Ordnung und gründeten eine „Dorfschule“ mit sechs Klassen. Der Effekt war enorm. Bekannte der Gründer zogen hinterher, weil Wallmow für sie inter­es­sant wurde. Damit wuchs auch das Schul­pro­jekt – und um es herum entstanden weitere Aktivi­täten. Bald gab es in Wallmow einen Lehrgarten, Sport­an­ge­bote, eine Jugend­kunst­schule, außerdem Bands, Theater und einen Posau­nen­chor. Die Dorfbe­völ­ke­rung wuchs um etwa ein Viertel. Es gab wieder Kinder im Dorf – und zwar etliche. Die Wallmower haben ein funktio­nie­rendes Gemein­wesen geschaffen – an dem es auch Kritik gibt, aber das steht auf einem anderen Blatt. Dazu bedurfte es – wie in Falken­berg – einiger aktiver Schlüs­sel­fi­guren, einer ganzen Kette von zwischen­mensch­li­chen Bezie­hungen und beacht­li­cher Integra­ti­ons­leis­tungen.

Das frappie­rende ist, dass in nächster Nähe zuein­ander Dörfer existieren, die so öde sind, dass als einziges Zeichen dafür, dass hier überhaupt jemand lebt, hinter Gardinen bläulich die Lichter von Fernse­hern flackern. Und solche, denen es gelingt, zu Orten zu werden, an denen Landleben seine beson­deren Quali­täten hat. Beides ist möglich. Und beides hängt von Akteuren ab. Orte sind, was Menschen bereit sind, in ihnen zu sehen. Wallmow war – nicht anders als Falken­berg – nichts weiter, als ein gewöhn­li­cher Ort in Branden­burg.

Und auch das gibt es: Orte, an denen die Gemein­wesen derart erodieren, dass Struk­turen wie die Jugend­ar­beit oder die freiwil­ligen Feuer­wehren leichte Beute für Neonazis werden. Wo das passiert, ist es schwer, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Umgekehrt entstehen, wo ländliche Gemein­schaften positive Impulse setzen, positive Dynamiken. Wo Leben ist, kommt mehr Leben. Projekte von Einzelnen bilden wie Pilzmy­cele weitver­zweigte Geflechte. Wo Leute Biohöfe, Schulen, Theater, Bildungs­orte gründen, kann das langfristig ganze Gegenden verändern.

Nichts ist so falsch wie die Vorstel­lung, dass es da den-ländlichen-Raum-ganz-weit-draußen gibt, ein Branden­burg, das gleich­mäßig vor sich hin stirbt. Kaum eine Gegend, die ich entdecke, offenbart sich aus der Nähe betrachtet als hetero­gener, gestalt­barer und hinsicht­lich ihrer Zukunft offen.

Sogar Schönheit gibt es. Auch in Branden­burg. Seit wir öfter dort bleiben, fängt die Fläche an, Höhen und Tiefen zu gewinnen. Mit der Landschaft in Branden­burg ist es wie mit dem Dorfleben. Ihre Beson­der­heit zeigt sie dem, der sich hinein­be­gibt. Das Land bekommt plötzlich Kontur. Wir unter­scheiden das Hochpla­teau, auf dem unser Dorf liegt von der Niederung, die wenige Kilometer weiter abfällt. Wir haben einen Wasser­lauf entdeckt, wo es Schilf gibt und Kraniche. Unsere Freunde sagen: „Krass schön hier, sieht aus, wie in Kanada.“ Wir sagen: „Nein, wie in Branden­burg.“ Dann packen wir unsere Stullen aus. Oder wir wandern weiter, bis in den nächsten Ort, wo Stadt­flüchter, die früher im Berliner Sage Club - Restau­rant kochten, ein Gasthaus mit Essen aus regio­nalen Produkten eröffnet haben.

Könnte es sein, dass es den ländli­chen Räumen heute ähnlich ergeht wie Kreuzberg vor 30 Jahren? Wie den „verödenden“ Innen­städten, bevor man erkannte, dass deren Dynamik sich drehen kann? Und sich schluss­end­lich wendete? Ähnlich wie damals, schreiben heute Analy­tiker einem Raum – dem Land – nur einen höchst begrenzten Spielraum möglicher Entwick­lungen zu. Und der ergibt sich aus dem, was in der Vergan­gen­heit geschah. Nicht aus dem, was werden kann. Übersehen wird, was Menschen aus Räumen machen können. Kein Ort ist „an sich“ so oder so. Ob er als „öde“ wahrge­nommen wird oder als „unwirt­lich“, ist jeweils nur eine Moment­auf­nahme. Und wohin Menschen sich in der Zukunft bewegen, hängt von Faktoren ab, die zu bestimmten Zeitpunkten gar nicht abzusehen sind. Aller­dings hat es Folgen, wenn man Gegenden dauerhaft zu aufge­geben Zonen erklärt. Denn auch wenn Orte gestaltbar sind, sie befinden sich nicht im luftleeren Raum.

Wo Dörfer positive Dynamiken entfalten, ist Stadt- und Landleben oft eng mitein­ander verzahnt. Dass Dörfer wie unseres keines­wegs „leerlaufen“ liegt daran, dass es Zuzüge gewinnt. Denn einer­seits werden, wie fast überall in Europa, weniger Babys als noch vor 50 Jahren geboren. Dazu kommt, dass die Landwirt­schaft nur noch wenige Menschen ernährt. Eine viel größere Bedeutung gewinnt daher die Frage, wie gut Orte angebunden sind. Dabei sind Verkehrs­wege ebenso so wichtig wie schnelles Internet. Jene etwa, die im Nachbarort die Gastwirt­schaft mit den regio­nalen Produkten betreiben, könnten aus deren Umsatz keines­wegs ihr Auskommen bestreiten. Ihre ökono­mi­sche Basis ist Web-Marketing. Das Dorfleben wird für sie erst durch digitale Verbin­dungen möglich. Nicht anders geht es inter­na­tional vernetzten Kultur­schaf­fenden mit ländli­chen Stand­orten.

Wobei damit nicht gesagt sein soll, dass sich das physische Wirtschafts­leben auf dem Land aufgelöst hätte. In Falken­berg arbeiten durchaus einige Menschen in Betrieben und Geschäften der umlie­genden Gemeinden. Dass auf dem Land überall nur „Garnichts“ wäre, ist eine Großstadt­kin­der­phan­tasie. Aber rund ein Viertel der Anwohner pendelt zum Arbeiten in mittlere Städte oder nach Berlin. Wobei wir in Falken­berg das Glück haben, dass in den Nachwen­de­jahren, als im Spareifer viele Regio­nal­züge abgebaut wurden, ausge­rechnet jene Linie vergessen wurde, die unser Nachbar­dorf mit Berlin verbindet. Wir können durch die Felder radeln und die Bahn nehmen, wenn wir beruflich nach Berlin müssen, was regel­mäßig geschieht. Etwas schneller ist, wer im 20 Kilometer entfernten Fürsten­walde den Zug besteigt. Es gibt Leute, die mit dem Auto dorthin fahren und dann per Schiene in einer halben Stunde die Berliner Stadt­mitte erreichen.

Noch vor zehn Jahren hätte man so eine Strategie, Wohnen und Arbeit zu verbinden, für exotisch gehalten. Heute erscheint sie machbar. Noch vor zehn Jahren hat auch niemand vorher­ge­sehen, dass Berlin so stark wachsen würde, dass Menschen, die hier arbeiten, aus mehreren Gründen weiter entfernte Wohnorte wählen. Der eine ist schlicht ein Verdrän­gungs­pro­zess.  Der andere ist: Die Großstadt wird voll. Die U-Bahnen, die Parks, die Straßen. Es schnürt einem förmlich die Luft ab. Die jahrelang anhal­tende „Landflucht“ hat dazu geführt, dass die großen Städte vor lauter Menschen mit städti­schem Lebens­ent­wurf förmlich überquellen. Und das, was zumindest wir am Leben in den Altstädten einmal schätzten, nämlich dass sie Gestal­tungs­räume boten, schafft sich seit dem Run auf die großen Städte selber ab.

Viele Menschen werden in naher Zukunft dem Leben in den großen Städten den Rücken kehren – und wieder aufs Land gehen. Das ist eine steile These. Aber mehr und mehr glauben wir, dass sie zutrifft. In unserem Freun­des­kreis ploppt es in letzter Zeit immer öfter auf: Irgendwer ist wieder dabei, sich „draußen“ etwas zu suchen. Packt Brote ein, fährt nach Branden­burg. Die Hemmschwellen sinken, denn viele kennen schon andere, die bereits „draußen“ sind. Die einen suchen Höfe, mit Platz für Seminar­räume oder Praxen, Ateliers oder Studios. Andere sind in ihren Jobs fest mit der Stadt verbunden und suchen Wohnpro­jekte. Oder ein Häuschen zu zweit. Nicht nur Idyllen sind gefragt. Kürzlich kauften Bekannte von uns als Gruppe einen ländli­chen Plattenbau. Wir übertrieben, hält man uns entgegen. Nur weil wir gerade Platz und Gestal­tungs­räume nicht mehr in der Stadt, sondern auf dem Land finden, hieße das noch lange nicht, relevante Teile der Bevöl­ke­rung würden bald dasselbe zu tun. Nur weil wir dort, wo andere nur Tristesse sehen, einen spannenden Raum entdecken, hieße das längst nicht, die Wahrneh­mung des Landle­bens insgesamt würde sich ändern. Wir glauben schon.

Das DIW Deutsches Institut für Wirtschafts­för­de­rung hat im Sommer diesen Jahres Zahlen vorgelegt, nach denen der Inland­wan­de­rungs­saldo der sieben größten deutschen Städte seit 2014 negativ ist. Einfacher ausge­drückt heißt das: Der Trend, dass in Deutsch­land mehr Menschen in die großen Städte ziehen, als aus ihnen abwandern, hat sich in den vergan­genen zwei Jahren umgekehrt. Der Forscher Konstantin Kholo­dilin hat dazu Zahlen des Statis­ti­schen Bundes­amts ausge­wertet – und wirft die Frage auf, ob sie das Ende der Landflucht markieren könnten. Was nicht heißt, dass die Großstädte schrumpfen würden. Im Gegenteil. Sie wachsen weiter, nur sind die Quelle dieses Wachstums inzwi­schen haupt­säch­lich Zuzüge aus dem Ausland. Die Inlands­wan­de­rungen dagegen schlagen inzwi­schen zu Ungunsten der Metro­polen zu Buche. Hamburg verliert Einwohner an Schleswig-Holstein. Frühere Berliner ziehen nach Branden­burg. Immobi­li­en­makler erwarten seither Renditen von bis zu 18 Prozent in kleineren Städten Branden­burgs – wie in Ebers­walde zum Beispiel. Vor fünf Jahren noch wurde Ebers­walde als schrump­fendes Landstädt­chen gehandelt, dem man allen­falls zutraute, durch hohe Leerstands­zahlen zu punkten. Bemer­kens­wert dabei ist: Nur solche Orte sind wieder „angesprungen“, die noch über einen Bahnan­schluss verfügen.

In Gegenden, die die Prognosen für Raument­wick­lung längst abgeschrieben haben, ist vieles möglich. Vor allem ist jederzeit möglich, dass sich sehr schnell ein paar Vorzei­chen ändern und Lebens­räume, die als obsolet galten, wieder benötigt werden. Dass sie wieder Inter­es­senten finden. Sogar aufblühen. Voraus­set­zung ist, dass sie weiterhin erreichbar sind und Bildungs­sys­teme und ärztliche Versor­gung funktio­nieren. Sprich: die „Daseins­vor­sorge“, von der wie beim Rosen­kranz­beten in dauernden Wieder­ho­lungen behauptet wird, sie sei „in der Tiefe des Raums“ nicht finan­zierbar. Und mehr noch: Wer nicht defensive, sondern gestal­tende Entwick­lungs­po­litik betreiben will, sollte die infra­struk­tu­relle und techni­sche Anbindung nach heutigen Standards ausbauen. Erschließen statt aufgeben. Denn die ländli­chen Räume werden gebraucht. Nicht nur für Windräder. Die Bedin­gungen, sie in Zukunft bewohnen zu können, werden heute geschaffen.

Erschienen in: „Neuland Gewinnen, die Zukunft von Ostdeutsch­land gestalten”, Christoph Links Verlag, 2017