Von einer Intervention in der Peripherie
„Mitte in der Pampa“ war ein mehrjähriges Kunstprojekt der Berliner nGbK (neue Gesellschaft für bildende Kunst) im öffentlichen Raum in Hellersdorf. Bald wird es zu Ende sein. Und es stellt sich die Frage, was bleiben wird. Hat es etwas bewirkt? Und wenn ja, dann was? Bei wem?
Mit dem Auftrag, mir in den Straßen von Hellersdorf, auf U-Bahnstationen und auf den Brachflächen zwischen den Plattenbauten ein Bild zu diesen Fragen zu machen, kreiste ich drei Monate lang um das Projekt. Dabei lernte ich einiges über einen Ort an Berlins Peripherie, der vielen Leuten wegen seiner überproportionalen AFD-Wählerschaft ein Begriff ist. Tiefere Ortskenntnis haben dagegen die wenigsten. „Mitte in der Pampa“ zu greifen zu kriegen, erwies sich als durchaus schwierig. Es gab nicht einen Ort des Ereignisses, keine aussagekräftigen Besucherzahlen, es ließ sich weder räumlich noch zeitlich fassen.
Räumlich reichte „Mitte in der Pampa“ von Arbeiten entlang der U-Bahnlinie U5 bis an viele Orte in der Großsiedlung Hellersdorf hinein. Es gab Ausstellungen und Gespräche in der zentralen Station des Projekts, Performances, bildende Kunst und Happenings im Stadtraum, urban gardening und Cricket unter freiem Himmel. Um einen Eindruck zu gewinnen, nahm ich an rund einem Dutzend Veranstaltungen teil und befragte Passanten und Menschen, die das Projekt aus verschiedenen Perspektiven miterlebt hatten. Gemessen an der Weite Hellersdorfs blieb das Projekt natürlich ein Punkt in der Landschaft. Zur Performance, Vernissage oder Diskussionsveranstaltung kamen mal zwanzig, mal auch nur zehn Besucher. Oft waren es solche, die ich bei anderen Veranstaltungen schon gesehen hatte. Häufig kannten sie die Gäste mit Namen. Dafür war die Resonanz auf das Projekt in den Interviews so berührend, dass man sich fragen muss, nicht wieviel das Projekt bewirkt hat, sondern eben was es auslöste – welchen Nerv es bei den Teilnehmern getroffen hat und was das sowohl über das Gebiet aussagt als auch, was in diesen Gebiet benötigt wird.
Als Hellersdorf Mitte der 1980er Jahre als letzte ostberliner Großsiedlung errichtet wurde, war sie voller Neubaupioniere. Leute, die hierherzogen, um in den fünfstöckigen Plattenbauten zwischen Schlamm und provisorischen Betonwegen einen Anfang zu machen. Die meisten waren jung und viele hatten kleine Kinder. Was sie einte, war wenig – nur, dass sie keine gemeinsame Geschichte hatten und die Zukunft einen der tiefsten Umbrüche für sie bereit hielt, die man sich denken kann. Der Bildungsrad und die soziale Stellung waren damals, DDR-typisch, durchmischt. Was in der Zwischenzeit passiert ist, scheint offenbar – ist es aber nicht.
Die stereotype Beschreibung besagt, dass alle, die es sich leisten konnten, weggezogen seien und Hellersdorf in der Folge einen sozialen Abstieg erlebte. Das stimmt aber nur zum Teil. Hellersdorf hat zwischen damals und heute nicht mehr Fluktuation erlebt als andere Gebiete Berlins. Vielmehr leben hier so viele Mieter schon länger als zehn Jahre in ihren Wohnungen wie in ganz Berlin nicht, – außer in Steglitz. 1 Es gibt einen hohen Prozentsatz an Tranferleistungsempfängern nach dem SGB II. Allerdings konzentrieren sie sich in der Großsiedlung – und dort in Gebäuden, die Wohnungen haben, die wegen ihres Zuschnitts oder ihrer Eigentümerstruktur gut an Hartz-IV-Empfänger gut vermittelt werden können.2 Die Einkommen liegen in Marzahn-Hellersdorf mit 1.7000 Euro monatlich nicht mehr als 50 Euro unter dem Berliner Gesamtdurchschnitt.3 Die Wohnlage gilt qua Mietspiegel fast in der ganzen Großsiedlung als mittel, viele Wohnungen sind „familientauglich“ geschnitten.4 Die Mieten sind im Berlinvergleich erschwinglich. Die Wohnzufriedenheit ist in Umfragen hoch. Und dennoch hatte ich nach drei Monaten vielen und intensiven Gesprächen mit Bewohnern nicht den Eindruck, dass hier alles in Ordnung ist. Eher schien mir das, was hier fehlt, nicht durch eine Statsitik zu greifen zu sein.
Mit Hellersdorfern, die das Projekt begleiteten, durch ihre Stadt
Der erste Teilnehmer an Mitte in der Pampa, der mir erlaubte, mich ein Stück in seinem Alltag zu begleiten, war Lutz Reineke, Schulgärtner und Frührentner, der nicht nur Veranstaltungen von „Mitte in der Pampa“ besucht, sondern regelrecht in das Projekt „eingezogen ist“. Er fährt Transporte, hilft bei Aufbauten, sorgt für das Catering und gestaltet selbst eine Ausstellung über das Verschwinden von Wildnis. Mit Lutz näherte ich mich Hellersdorf, das die Innenstädter als Peripherie empfinden, von seiner Peripherie aus. Da Lutz sein altes Elternhaus in Mahlsdorf bewohnt, pickte er mich mit seinem Bus an der dortigen S-Bahn-Station auf. Wir juckelten durch Mahlsdorf, das nur zum Teil dörflich wirkt. Auf immer kleineren Parzellen werden hier dank immer größerer Nachfrage Massen von Eigenheimen aus der Erde gestampft. Als Lutz Kind war, erzählt er, war Mahlsdorf noch ein Dorf. Und zwischen ihm und Berlin lagen Gärtnereien und Felder. Dann wurde die Großsiedlung Hellerdorf erbaut, eine neue Welt, mit Warmwasser aus der Wand, die als zeitgemäß und fortschrittlich galt. Wir fahren, sehen Mauern, Gartentore, Giebel mit farbig glänzenden Dachziegeln. Plötzlich fangen unvermittelt die Plattenbauten an. Als hätte man zwei Filme aneinandergeklebt, die nicht zusammenpassen. Die Szenerie ändert sich. Die parkenden Autos sind seltener Limousinen und häufiger Kleinwagen. Seit Lutz Jugend haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Früher galt das Dorf als überkommen, heute mag der Zeitgeschmack der urbanen Mittelklasse die Großsiedlungen nicht. Im Lauf dieses Tages treffen wir noch eine Lehrerin, die an einer Schule an der Grenze zwischen Plattenbausiedlung und Mahlsdorf unterrichtet. Wir führen ein Gespräch, in dem es viel um Kinder aus unterschiedlichen Einkommenschichten geht, ohne dass sie ein einziges Mal das Wort „sozialschwach“ verwendet. Dafür spricht sie von einer „Entmischung“, die heute stattfindet. Und davon, dass die Eigenheimsiedlungen nach der Wende gesellschaftlich aufgewertet wurden, während die anderen herabgestuft wurden. Und sie spürten das. Auch die Kinder. Schulen, erzählt sie, sind ein neuralgischer Punkt im sozialen Gedächtnis von Hellersdorf. Vor knapp zehn Jahren riss man in der Großsiedlungen zahlreiche Schulgebäude ab. „Das hat eine Wunde gerissen“, meint Lutz Reineke „Schulen sind Orte, an denen man geprägt wurde. Wenn die wegkommen, verlierst du einen Teil deiner Identität.“
Der Place Internationale – einen städtischen Raum aneignen
Eigentümlicherweise war es eine Brache im Plattenbaugebiet, auf dem bis zu ihrem Abriss eine Grundschule stand, wo Lutz Reineke sich „Mitte in der Pampa“ förmlich einverleibte. Beim Mitte-in-der-Pampa-Projekt „place internationale“ kochte Lutz überm offenen Feuer Suppe – und alle, die wollten, aßen davon. Der „place internationale“ war eine fröhliche Behauptung. Auf jener Brache, die sich südlich des U Bahnhofs Cottbusser Platz erstreckt, gedeiht Wildwuchs, Schafgarbe und Goldregen. Weil alle, die die südlich gelegenen Blocks erreichen wollen, die Brache als Abkürzung nehmen, führen Trampelpfade über den Platz, die seinen Gebrauch anzeigen. Im Hintergrund sind weißgestrichene Fünfstöcker zu sehen. Der Jugendclub U5 und die Geflüchtetenunterkunft in der Maxie-Wander-Straße liegen in direkter Nachbarschaft.
Zum „place internationale“ wurde der Ort, indem die Künstlerin Folke Köbbelung ihn mit einem begehbaren hölzernen Sockel bebaute. Auf diesem Sockel richtete das Projektteam zu besonderen Ereignissen eine haushohe aufblasbare Säule mit einem Einhornkopf auf. Die Säule war eine Reminiszens an Napoleons Siegessäule. Den Einhornkopf hatten Hellersdorfer Kinder entworfen. Und weil 1871 während der Pariser Commune die Kommunarden auf dem Place Vendôme Napoleons Siegessäule gestürtzt hatten, wurde auch diese Säule – mitten in Hellersdorf – von Zeit zu Zeit im Zuge eines kleinen Festakts gestürzt.
Den historischen Bezug verstanden nur die, denen man die Geschichte erklärte. Aber intuitiv begriffen alle: dass es um die Aneignung eines öffentlichen Raums durch seine Bewohner ging. Und tatsächlich war es das. Beim Aufbau des Sockels halfen mit Hammer und Nägeln Jugendliche aus dem Jugendclub und Geflüchtetenkinder. Nachbarn zimmerten einen großen Holztisch dazu, bauten eine Feuerstelle – und für ein halbes Jahr wurde die Brache zum Hauptaktionsplatz des nGbK-Projekts. Hier fanden hin und wieder „Tanzplätze“ statt. Der syrische Künstler Djihad Issa, der im Geflüchtetenheim ein Zimmer bewohnt, begann hier sein Kunstprojekt, Porträts der Hellersdofer zu zeichnen und ihnen die Kunstwerke zu schenken. Immer mal wieder erwachte der verkrautete Platz zum Leben und es wurde gemalt, gegrillt, Suppe gekocht.
Und was vielleicht das wichtigste war: Die Nutzung des Ortes entwickelte ein Eigenleben. Auch wenn nichts geplantes stattfand, saßen hier gelegentlich Leute, machten Feuer und redeten miteinander. Ein Ehepaar – die Klages –, die in der Nachbarschaft wohnten, gingen sogar „Streife“, um das „Holzhaus“ vor Vandalismus zu bewahren. Womit sie nicht verhindern konnten, dass es in einer Julinacht niederbrannte. Manche meinen, dass Rechtsgesinnte es angezündet hatten, andere glauben, dass es schlicht Vandalismus war. Oder ein Unfall – denn schließlich hatten hier mitunter nachts Jugendliche gesessen, geplaudert und Zigaretten geraucht. Die Sache aufzuklären, wäre eine andere Geschichte. Weshalb ich dem „place internationale“ – der ja nur eines von vielen Kunstprojekten war – hier so viel Raum gebe ist, dass man an ihm mehreres ablesen kann, was die Kunst als eine Art Seismograph über dieses Wohngebiet sagt.
„Ich interessiere mich nicht zu sehr für Kunst“, erzählt Barbara Klage, die für das Holzhaus Streife ging, „aber meinem Mann und mir hat es so viel gegeben, wieder einmal mit anderen zusammen etwas draußen zu unternehmen, ich meine: uns gemeinschaftlich für etwas einzusetzen, dass das Projekt über mehr als ein Jahr lang ein Teil unseres Lebens geworden ist.“ Barbara Klage, Ingenieurin für Telekommunikation ist 1988 als junge Mutter nach Hellersdorf gezogen. „Wir haben unsere Wohnung geliebt – schon allein, weil man einen so tollen Ausblick bis zum Kienberg hat“. Wie viele Hellersdorfer erzählt sie davon, wie man in der Anfangszeit noch in den Höfen der Wohnblocks feierte, wechselseitig die Kinder beaufsichtigte, den Hof bepflanzte. In den 90ern standen plötzlich Wohnungen leer. Klages nutzten den Leerstand, mieteten kurzerhand ihre Nachbarwohnung dazu und genossen es, mit ihren jugendlichen Kindern 180 Quadratmeter mit Parkaussicht zu bewohnen. Als die „Jungs“ aus dem Haus waren, verkleinerten sie sich wieder. „Wir haben nie bereut, in der Stadt geblieben zu sein, statt draußen zu bauen, was viele damals machten“, sagt sie. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie mit „Stadt“ Hellersdorf meint, während sie mit „draußen“ den Speckgürtel mit den Einfamilienhäusern meint. Und das sagt schon einmal eine Menge: Nämlich dass Frau Klage – entgegen der medialen Wahrnehmung Hellersdorf keineswegs als „Peripherie“ wahrnimmt“. „Peripherie“, als die ja auch nicht zuletzt das nGbK-Projekt Hellersdorf apostrophiert, scheint keine räumliche, sondern vielmehr eine wertende Zuschreibung zu sein. Nicht ansich liegt ein Gebiet „draußen“. Sondern es ist eine Frage der Perspektive. Bewohner wie Klages schätzen die Möglichkeiten, im nahen Wuhletal spazieren zu gehen, die schnelle Verbindung mit U- und S-Bahn (dreißig Minuten) zum Alexanderplatz.
Keineswegs, – so erzählen mir verschiedene Leute, mit denen ich spreche –, seien alle, die es sich leisten hätten können, im Lauf der Jahre weggezogen. Aber der soziale Zusammenhalt sei zerbrochen. Nicht weil ganz Hellersdorf sozial abgestiegen sei. Sondern weil ein soziale Gefälle entstanden sei, das die Gemeinschaft spalte. Die einen schämen sich für ihren Hartz-IV-Bezug, den anderen ist vor den verarmten Nachbarn ihr „bessergestelltsein“ unangenehm. Wer sich schämt, bleibt in den eigenen vier Wänden.
Der Rückzug – die unsichtbaren Mauern durchbrechen
Eins der größeren Probleme in Hellersdorf scheint nicht der Wegzug oder der Abstieg, sondern Entwertung und Rückzug zu sein. In fast allen Interviews, die ich führte, spielte beides eine entscheidende Rolle. Auch Tobias, Erzieher im Jugendclub U 5, der 32 Jahre alt ist und Bernd Preußer, der Politikwissenschaftler, Mathematiker und Rentner ist, beschreiben den Rückzug. „Es gibt kaum Kneipen in Hellersdorf“, sagt Tobias. Und Bernd Preußer beschreibt, wie seit den 1990er Jahren Restaurants, die er mochte, geschlossen hätten. Nicht weil die Kaufkraft gesunken sei, – die sei etwa gleich geblieben, sondern weil viele Leute schlicht nicht „nach draußen zum Essen“ gingen. Und Mohhamed Alkhatis, der 27 Jahre alt ist, in Hellersdorf wohnt, aus Aleppo stammt und an der Humboldt Universität studiert, sagt: „Mir fehlt hier nichts. Aber es fehlen mir Orte, an denen ich mich mit Gleichaltigen treffen könnte.“
Der Rückzug hat vielfältige Gesichter. Er ist die Einsamkeit derer, die nur noch an wochenendlichen Bohrgeräuschen hören, wenn neue Nachbarn ins Haus eingezogen sind. Er ist die Sprachlosigkeit und Ausgegrenztheit der Eltern im Geflüchtetenheim. Er ist die abendliche Dunkelheit auf dem Kastanieboulevard, der früheren Einkaufsstraße von Hellersdorf, und wo fast alle, die man anspricht, gerade auf dem Weg nach Hause sind. Es ist der Rückzug aus dem öffentlichen Raum ebenso wie der Rückzug aus dem Engagement für das Öffentliche. Dazu passt, dass – wie Bernd Preußer erzählt, Bürgerversammlungen schlecht besucht werden. Dazu passt auch, dass Hellersdorf der Berliner Bezirk mit der geringsten Wahlbeteiligung ist.5 Es ist so, als würden viele Hellersdorfer die öffentliche Sphäre, die sie umgibt, nicht als ihre wahrnehmen.
Ähnlich wie Klages erzählten etliche Hellersdorfer, die das Projekt über einen langen Zeitraum begleiteten, dass sie nicht nur Veranstaltungen besuchten, sondern sich persönlich mit ihm verbunden fühlten. Die einen verwirklichten eigene Projekte innerhalb des Projekts. Andere knüpften Netzwerke oder entwickelten aus dem Projekt heraus Initiativen, die zu Selbstläufer geworden sind und weitergehen. Allen gemeinsam ist, dass „Mitte in der Pampa“ bei ihnen dazu beitrug, soziale Mauern zu durchbrechen.
Connie Kahl, die nach Hellersdorf zog, als die Neubauten noch mitten im Schlamm standen, ist eine davon. Wenn sie erzählt, entsteht vor dem geistigen Auge ein Hellersdorf, das in den Anfangsjahren alles andere als ein Ort sozialer Verkapselung ist. Wie Frau Klage, zog sie in den späten 1980ern als junge Frau und Mutter nach Hellersdorf. Weil der Matsch in den Höfen häßlich war, pflanzten die Nachbarn in Eigenregie Sträucher, bauten Grillecken. Und allein schon, um alles in Schuss zu halten, verständigten sie sich. Man kannte sich, fühlte sich verantwortlich. Der Rückzug hätte begonnen, als Landschaftsarchitekten die Höfe beplanten, sie einzäunten, das Selbstgepflanzte herausrissen und die Gestaltung durch eine neue, einheitliche überschrieben. Mit dieser Überschreibung schwand nicht nur der Bezug der Bewohner zu ihren Höfen. Auch die Anlässe, zu kommunizieren, gingen verloren. Hellersdorf wurde adretter und das Leben einfacher. Und Connie Kahl lernte, dass der Stadtraum etwas umkämpftes ist.
Überschreibungen – und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit
Um Überschreibungen geht es oft, wenn die Hellersdorfer, mit denen ich gesprochen habe, ihren Raum schwinden sehen, mit dem sie Identität verbinden.
Das alte Parteigebäude ist ein Beispiel, das 1989 Schauplatz des Runden Tischs wurde und dessen Saal bis zu seinem Abriss allerlei Bürgerversammlungen diente. Es wurde abgebrochen, um dem Bauprojekt „Helle Mitte“ zu weichen.
Eins der raumgreifendsten Überschreibungen der letzten Zeit aber war die IGA, die für drei Jahre Großaustellung 70 Hektar öffentlichen Park am Kienberg einzäunte, und dabei Anlagen, Wege und Bepflanzungen revidierte. Dazu gehörten Räume, die vormals Orte spontaner Zusammenkünfte unter freiem Himmel waren. Zum Beispiel eine Feuerstelle auf dem Kienberggipfel, wo man Osterfeuer machte, picknickte, in Schlafsäcken nächtigte. Dazu gehörten auch Orte, die die Hellersdorfer in Eigenarbeit gestaltet hatten – wie eine alte Streuobstwiese, die Bürger ehrenamtlich gepflanzt hatten, als der Kienberg vom Schuttberg zum öffentlichen Stadtgrün wurde. Als die Pläne öffentlich wurden, dass die IGA den Zugang zu dieser Öffentlichkeit per Zaun und Eintritt limitierte, gründete Connie Kahl mit anderen zusammen die Bürgerinitiative Kienberg. Ein Schritt, den Rückzug zu durchbrechen, gemeinsam für Öffentlichkeit zu streiten. Wie Connie Kahl erzählt, war und ist dieser Schritt – „wegen dieser Scheu der Leute, sich zu exponieren“ nicht leicht. Die Initiative brachte eine Reihe von Vorschlägen ein, statt des abgezäunten zentralen Großprojekts, in ganz Hellersdorf dezentrale Gärten zu planen. Eine Idee war ein interkultureller Garten vor der Geflüchtetenunterkunft in der Maxie-Wander-Straße, wo syrische, afghanische, russlanddeutsche und „Althellersdorfer“ zusammen gärtnern und kochen könnten. Sie stießen auf Widerstand. Keiner ihrer Vorschläge floss in die Planungen ein. Im Gegenteil erlebten sie Misstrauen. Als Hellersdorfer Bürgerinitiative wurden sie gar verdächtigt, dem rechten Spektrum zu entstammen. Ein Bürgerprotest aus Hellersdorf! Was wäre da schon zu erwarten.
Für Connie Kahl und ihre Mitsteiter bedeutete „Mitte in der Pampa“ Respekt, Ermutigung, Austausch und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. An der IGA-Bürgerbeteiligung gescheitert, nahm die Kienberginitiative zur nGbK-Projektgruppe Kontakt auf. Frau Kahl sagt es so: „Die waren unvoreingenommen, setzten sich mit uns auseinander, waren interessiert an den Erfahrungen, die wir einbrachten, – und daraus machten wir gemeinsam etwas“. Aus dem Impuls der Kienberginitiative, vor dem Geflüchtetenheim einen interkulturellen Ort des Austauschs zu schaffen, entstand die Idee, dort den „place internationale“ auszurufen. Eine enge Zusammenarbeit begann, während der die Kienberginitiative, ihre Arbeit und Expertise an Hochschulen angebunden Teil von Netzwerken wurde. Diese Arbeit wird weitergehen, denn auch wenn die IGA ihre Zelte inzwischen abgebrochen hat, werden Teile des Kienbergs nicht kostenfrei zugänglich sein.
Spielball sein – oder selbst Spieler werden
Um Teilhabe und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ging es auch beim „Cricket für Alle“. Wir kehren an Ort hinter dem U-Bahnhof Cottbusser Platz zurück – die „Brache“ oder die „Grünfläche“, wie die Hellerdorfer das Stückchen Land nennen, das im U-Bahntakt Scharen von Menschen queren. Der „place international“, wie ihn die nGbK-Gruppe nennt. An seinem südlichen Rand gehen allabendlich die Lichter der Geflüchtetenunterkunft in der Maxie-Wander-Straße an.
Habibullah Salil, 28 Jahre alt, lebt seit vier Jahren in Deutschland. Er stammt aus Afghanistan und flüchtete von dort. Er gehört zu denjenigen, über die viele Hellersdorfer sprechen, die sie selten sehen, mit denen sie nie in einen Austausch treten, die festsitzen und versorgt werden. Habibullah, genannt Habib, ist ein aktiver, sportlicher und sehr beweglicher Mann. Bevor er floh, hatte er Cricket gespielt – als Profi. „In der Unterkunft leben viele, die Cricket spielen“, erzählte er mir, „In Indien, Pakistan und Afghanistan ist Cricket das, was hier Fußball ist.“ Habibullah Salil und Sajid Khan, ebenfalls Bewohner der Unterkunft, bekamen mit, dass es auf der „Brache“ eine Menge Aktionen gab. Sie lernten Adam Page kennen, der Mitglied der Projektgruppe und gebürtiger Brite ist – und selbst Cricket spielt. Er nahm den Impuls auf, Cricket nach Hellersdorf zu bringen.
„Cricket für Alle“ für alle nannten sie das Mitte-in-der-Pampa-Projekt, für das Habibullah und Sajid eine Mannschaft aufstellten und für das sie gemeinsam an einem Nachmittag das beinhohe Gras für ein Cricketfeld mähten. An Donnerstagen zeigten hier zwei Sommer lang Spieler aus der Unterkunft Hellersdorfer Kindern, wie man richtig wirft, und was runs und was wickets sind. Die Hellersdorfer hatten dabei die Gelegenheit, die Bewohner der Unterkunft nicht als Bedürftige kennenzulernen, sondern als Profis, als Spieler, die schwitzen und Punkte machen und Applaus verdienen. Auf den Tribünen aus Baupaletten saß zwar keineswegs ganz Hellersdorf versammelt, sondern meistens eine Menge Kinder, ein paar Leute aus dem Geflüchtetenheim und ein paar aus den Häuserblocks ringsum. Aber es waren dennoch Gelegenheiten, Rollen neu zu definieren, es gab eine Menge sportlicher Begegnungen, an denen teilnahm, wer Lust dazu hatte. Und auf den Rängen fanden Gespräche statt. Was gefährlich wie Sozialkitsch klingt, meine ich ernst. Es gibt wenig, was Hellersdorf nötiger hätte. Nicht zuletzt hatten die Hellersdorfer Spieler Erfolg. Beim Athletic Club Berlin in Hellersdorf gründeten Habibullah Salil und Sajid Khan eine Abteilung Cricket. Sie spielten 2018 in der Regionalliga und hoffen auf den Sprung in die Bundesliga.
Ausblick und Resumee
Mitte-in-der-Pampa war – wenn man die Geschichte von Jim Knopf kennt, das Gegenteil eines Scheinriesen. Den Scheinriesen trafen Jim Knopf und der Lokomotivführer in der Wüste „Ende der Welt“, und er hatte die Eigenschaft aus der Ferne riesig zu wirken und aus der Nähe betrachtet, zu schrumpfen. „Mitte-in-der-Pampa“ gewinnt an Bedeutung, je näher man dem Projekt kommt. Es war kein Massenereignis, hat aber etliche Menschen berührt, ermutigt und in Bewegung gesetzt. Es hat „kleine Siege“ hervorgebracht und den Möglichkeitssinn geschärft. Dabei war Kunst kein Gegenstand von Kontemplation, sondern eher Methode.
Periphieren werden zu solchen gemacht. Peripherie zu sein ist keine Frage der Lage im räumlichen Zentrum einer Stadt oder am Rand, sondern sie sind soziale Gegebenheiten. Peripherie ist, wenn Menschen den Rückzug antreten. Wenn sie sich nicht als Teil der Öffentlichkeit begreifen – und wenn sie nicht als solcher begriffen werden. Das Peripherie-sein kann durchbrochen werden. Mitte-in-der-Pampa war und ist ein Beitrag dazu.
Erschienen im Abschlussband der Ausstellung: „Mitte in der Pampa, Kunst im Untergrund zwischen Hauptbahnhof und Cottbusser Platz“, nGbK, 2018
1 Sozialbericht Marzahn-Hellersdorf 2015, Hrsg.: Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf
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5 Bei Wahlen zum Abgeordnetenhaus und Bundestag liegt die Beteiligung in der Großsiedlung Hellersdorf rund zehn Prozent unter der Gesamtberlins.