Mitte in der Pampa

Von einer Inter­ven­tion in der Peripherie

„Mitte in der Pampa“ war ein mehrjäh­riges Kunst­pro­jekt der Berliner nGbK (neue Gesell­schaft für bildende Kunst) im öffent­li­chen Raum in Hellers­dorf. Bald wird es zu Ende sein. Und es stellt sich die Frage, was bleiben wird. Hat es etwas bewirkt? Und wenn ja, dann was? Bei wem?

Mit dem Auftrag, mir in den Straßen von Hellers­dorf, auf U-Bahnstationen und auf den Brach­flä­chen zwischen den Platten­bauten ein Bild zu diesen Fragen zu machen, kreiste ich drei Monate lang um das Projekt. Dabei lernte ich einiges über einen Ort an Berlins Peripherie, der vielen Leuten wegen seiner überpro­por­tio­nalen AFD-Wählerschaft ein Begriff ist. Tiefere Ortskenntnis haben dagegen die wenigsten. „Mitte in der Pampa“ zu greifen zu kriegen, erwies sich als durchaus schwierig. Es gab nicht einen Ort des Ereig­nisses, keine aussa­ge­kräf­tigen Besucher­zahlen, es ließ sich weder räumlich noch zeitlich fassen.

Räumlich reichte „Mitte in der Pampa“ von Arbeiten entlang der U-Bahnlinie U5 bis an viele Orte in der Großsied­lung Hellers­dorf hinein. Es gab Ausstel­lungen und Gespräche in der zentralen Station des Projekts, Perfor­mances, bildende Kunst und Happe­nings im Stadtraum, urban gardening und Cricket unter freiem Himmel. Um einen Eindruck zu gewinnen, nahm ich an rund einem Dutzend Veran­stal­tungen teil und befragte Passanten und Menschen, die das Projekt aus verschie­denen Perspek­tiven miterlebt hatten. Gemessen an der Weite Hellers­dorfs blieb das Projekt natürlich ein Punkt in der Landschaft. Zur Perfor­mance, Vernis­sage oder Diskus­si­ons­ver­an­stal­tung kamen mal zwanzig, mal auch nur zehn Besucher. Oft waren es solche, die ich bei anderen Veran­stal­tungen schon gesehen hatte. Häufig kannten sie die Gäste mit Namen. Dafür war die Resonanz auf das Projekt in den Inter­views so berührend, dass man sich fragen muss, nicht wieviel das Projekt bewirkt hat, sondern eben was es auslöste – welchen Nerv es bei den Teilneh­mern getroffen hat und was das sowohl über das Gebiet aussagt als auch, was in diesen Gebiet benötigt wird.

Als Hellers­dorf Mitte der 1980er Jahre als letzte ostber­liner Großsied­lung errichtet wurde, war sie voller Neubau­pio­niere. Leute, die hierher­zogen, um in den fünfstö­ckigen Platten­bauten zwischen Schlamm und provi­so­ri­schen Beton­wegen einen Anfang zu machen. Die meisten waren jung und viele hatten kleine Kinder. Was sie einte, war wenig – nur, dass sie keine gemein­same Geschichte hatten und die Zukunft einen der tiefsten Umbrüche für sie bereit hielt, die man sich denken kann. Der Bildungsrad und die soziale Stellung waren damals, DDR-typisch, durch­mischt. Was in der Zwischen­zeit passiert ist, scheint offenbar – ist es aber nicht.

Die stereo­type Beschrei­bung besagt, dass alle, die es sich leisten konnten, wegge­zogen seien und Hellers­dorf in der Folge einen sozialen Abstieg erlebte. Das stimmt aber nur zum Teil. Hellers­dorf hat zwischen damals und heute nicht mehr Fluktua­tion erlebt als andere Gebiete Berlins. Vielmehr leben hier so viele Mieter schon länger als zehn Jahre in ihren Wohnungen wie in ganz Berlin nicht, – außer in Steglitz. 1 Es gibt einen hohen Prozent­satz an Tranfer­leis­tungs­emp­fän­gern nach dem SGB II. Aller­dings konzen­trieren sie sich in der Großsied­lung – und dort in Gebäuden, die Wohnungen haben, die wegen ihres Zuschnitts oder ihrer Eigen­tü­mer­struktur gut an Hartz-IV-Empfänger gut vermit­telt werden können.2 Die Einkommen liegen in Marzahn-Hellersdorf mit 1.7000 Euro monatlich nicht mehr als 50 Euro unter dem Berliner Gesamt­durch­schnitt.3 Die Wohnlage gilt qua Mietspiegel fast in der ganzen Großsied­lung als mittel, viele Wohnungen sind „famili­en­taug­lich“ geschnitten.4 Die Mieten sind im Berlin­ver­gleich erschwing­lich. Die Wohnzu­frie­den­heit ist in Umfragen hoch. Und dennoch hatte ich nach drei Monaten vielen und inten­siven Gesprä­chen mit Bewohnern nicht den Eindruck, dass hier alles in Ordnung ist. Eher schien mir das, was hier fehlt, nicht durch eine Statsitik zu greifen zu sein.

Mit Hellers­dor­fern, die das Projekt beglei­teten, durch ihre Stadt

Der erste Teilnehmer an Mitte in der Pampa, der mir erlaubte, mich ein Stück in seinem Alltag zu begleiten, war Lutz Reineke, Schul­gärtner und Frührentner, der nicht nur Veran­stal­tungen von „Mitte in der Pampa“ besucht, sondern regel­recht in das Projekt „einge­zogen ist“. Er fährt Trans­porte, hilft bei Aufbauten, sorgt für das Catering und  gestaltet selbst eine Ausstel­lung über das Verschwinden von Wildnis. Mit Lutz näherte ich mich Hellers­dorf, das die Innen­städter als Peripherie empfinden, von seiner Peripherie aus. Da Lutz sein altes Eltern­haus in Mahlsdorf bewohnt, pickte er mich mit seinem Bus an der dortigen S-Bahn-Station auf. Wir juckelten durch Mahlsdorf, das nur zum Teil dörflich wirkt. Auf immer kleineren Parzellen werden hier dank immer größerer Nachfrage Massen von Eigen­heimen aus der Erde gestampft. Als Lutz Kind war, erzählt er, war Mahlsdorf noch ein Dorf. Und zwischen ihm und Berlin lagen Gärtne­reien und Felder. Dann wurde die Großsied­lung Heller­dorf erbaut, eine neue Welt, mit Warmwasser aus der Wand, die als zeitgemäß und fortschritt­lich galt. Wir fahren, sehen Mauern, Garten­tore, Giebel mit farbig glänzenden Dachzie­geln. Plötzlich fangen unver­mit­telt die Platten­bauten an. Als hätte man zwei Filme anein­an­der­ge­klebt, die nicht zusam­men­passen. Die Szenerie ändert sich. Die parkenden Autos sind seltener Limou­sinen und häufiger Klein­wagen. Seit Lutz Jugend haben sich die Verhält­nisse umgekehrt. Früher galt das Dorf als überkommen, heute mag der Zeitge­schmack der urbanen Mittel­klasse die Großsied­lungen nicht. Im Lauf dieses Tages treffen wir noch eine Lehrerin, die an einer Schule an der Grenze zwischen Platten­bau­sied­lung und Mahlsdorf unter­richtet. Wir führen ein Gespräch, in dem es viel um Kinder aus unter­schied­li­chen Einkom­men­schichten geht, ohne dass sie ein einziges Mal das Wort „sozial­schwach“ verwendet. Dafür spricht sie von einer „Entmi­schung“, die heute statt­findet. Und davon, dass die Eigen­heim­sied­lungen nach der Wende gesell­schaft­lich aufge­wertet wurden, während die anderen herab­ge­stuft wurden. Und sie spürten das. Auch die Kinder. Schulen, erzählt sie, sind ein neural­gi­scher Punkt im sozialen Gedächtnis von Hellers­dorf. Vor knapp zehn Jahren riss man in der Großsied­lungen zahlreiche Schul­ge­bäude ab. „Das hat eine Wunde gerissen“, meint Lutz Reineke „Schulen sind Orte, an denen man geprägt wurde. Wenn die wegkommen, verlierst du einen Teil deiner Identität.“

Der Place Inter­na­tio­nale – einen städti­schen Raum aneignen

Eigen­tüm­li­cher­weise war es eine Brache im Platten­bau­ge­biet, auf dem bis zu ihrem Abriss eine Grund­schule stand, wo Lutz Reineke sich „Mitte in der Pampa“ förmlich einver­leibte. Beim Mitte-in-der-Pampa-Projekt „place inter­na­tio­nale“ kochte Lutz überm offenen Feuer Suppe – und alle, die wollten, aßen davon. Der „place inter­na­tio­nale“ war eine fröhliche Behaup­tung. Auf jener Brache, die sich südlich des U Bahnhofs Cottbusser Platz erstreckt, gedeiht Wildwuchs, Schaf­garbe und Goldregen. Weil alle, die die südlich gelegenen Blocks erreichen wollen, die Brache als Abkürzung nehmen, führen Trampel­pfade über den Platz, die seinen Gebrauch anzeigen. Im Hinter­grund sind weißge­stri­chene Fünfstö­cker zu sehen. Der Jugend­club U5 und die Geflüch­te­ten­un­ter­kunft in der Maxie-Wander-Straße liegen in direkter Nachbar­schaft.

Zum „place inter­na­tio­nale“ wurde der Ort, indem die Künst­lerin Folke Köbbelung ihn mit einem begeh­baren hölzernen Sockel bebaute. Auf diesem Sockel richtete das Projekt­team zu beson­deren Ereig­nissen eine haushohe aufblas­bare Säule mit einem Einhorn­kopf auf. Die Säule war eine Reminis­zens an Napoleons Sieges­säule. Den Einhorn­kopf hatten Hellers­dorfer Kinder entworfen. Und weil 1871 während der Pariser Commune die Kommu­narden auf dem Place Vendôme Napoleons Sieges­säule gestürtzt hatten, wurde auch diese Säule – mitten in Hellers­dorf – von Zeit zu Zeit im Zuge eines kleinen Festakts gestürzt.

Den histo­ri­schen Bezug verstanden nur die, denen man die Geschichte erklärte. Aber intuitiv begriffen alle: dass es um die Aneignung eines öffent­li­chen Raums durch seine Bewohner ging. Und tatsäch­lich war es das. Beim Aufbau des Sockels halfen mit Hammer und Nägeln Jugend­liche aus dem Jugend­club und Geflüch­te­ten­kinder. Nachbarn zimmerten einen großen Holztisch dazu, bauten eine Feuer­stelle – und für ein halbes Jahr wurde die Brache zum Haupt­ak­ti­ons­platz des nGbK-Projekts. Hier fanden hin und wieder „Tanzplätze“ statt. Der syrische Künstler Djihad Issa, der im Geflüch­te­ten­heim ein Zimmer bewohnt, begann hier sein Kunst­pro­jekt, Porträts der Hellers­dofer zu zeichnen und ihnen die Kunst­werke zu schenken. Immer mal wieder erwachte der verkrau­tete Platz zum Leben und es wurde gemalt, gegrillt, Suppe gekocht.

Und was vielleicht das wichtigste war: Die Nutzung des Ortes entwi­ckelte ein Eigen­leben. Auch wenn nichts geplantes stattfand, saßen hier gelegent­lich Leute, machten Feuer und redeten mitein­ander. Ein Ehepaar – die Klages –, die in der Nachbar­schaft wohnten, gingen sogar „Streife“, um das „Holzhaus“ vor Vanda­lismus zu bewahren. Womit sie nicht verhin­dern konnten, dass es in einer Julinacht nieder­brannte. Manche meinen, dass Rechts­ge­sinnte es angezündet hatten, andere glauben, dass es schlicht Vanda­lismus war. Oder ein Unfall – denn schließ­lich hatten hier mitunter nachts Jugend­liche gesessen, geplau­dert und Zigaretten geraucht. Die Sache aufzu­klären, wäre eine andere Geschichte. Weshalb ich dem „place inter­na­tio­nale“ – der  ja nur eines von vielen Kunst­pro­jekten war – hier so viel Raum gebe ist, dass man an ihm mehreres ablesen kann, was die Kunst als eine Art Seismo­graph über dieses Wohnge­biet sagt.

„Ich inter­es­siere mich nicht zu sehr für Kunst“, erzählt Barbara Klage, die für das Holzhaus Streife ging, „aber meinem Mann und mir hat es so viel gegeben, wieder einmal mit anderen zusammen etwas draußen zu unter­nehmen, ich meine: uns gemein­schaft­lich für etwas einzu­setzen, dass das Projekt über mehr als ein Jahr lang ein Teil unseres Lebens geworden ist.“ Barbara Klage, Ingenieurin für Telekom­mu­ni­ka­tion ist 1988 als junge Mutter nach Hellers­dorf gezogen. „Wir haben unsere Wohnung geliebt – schon allein, weil man einen so tollen Ausblick bis zum Kienberg hat“. Wie viele Hellers­dorfer erzählt sie davon, wie man in der Anfangs­zeit noch in den Höfen der Wohnblocks feierte, wechsel­seitig die Kinder beauf­sich­tigte, den Hof bepflanzte. In den 90ern standen plötzlich Wohnungen leer. Klages nutzten den Leerstand, mieteten kurzer­hand ihre Nachbar­woh­nung dazu und genossen es, mit ihren jugend­li­chen Kindern 180 Quadrat­meter mit Parkaus­sicht zu bewohnen. Als die „Jungs“ aus dem Haus waren, verklei­nerten sie sich wieder. „Wir haben nie bereut, in der Stadt geblieben zu sein, statt draußen zu bauen, was viele damals machten“, sagt sie. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie mit „Stadt“ Hellers­dorf meint, während sie mit „draußen“ den Speck­gürtel mit den Einfa­mi­li­en­häu­sern meint. Und das sagt schon einmal eine Menge: Nämlich dass Frau Klage – entgegen der medialen Wahrneh­mung Hellers­dorf keines­wegs als „Peripherie“ wahrnimmt“. „Peripherie“, als die ja auch nicht zuletzt das nGbK-Projekt Hellers­dorf apostro­phiert, scheint keine räumliche, sondern vielmehr eine wertende Zuschrei­bung zu sein. Nicht ansich liegt ein Gebiet „draußen“. Sondern es ist eine Frage der Perspek­tive. Bewohner wie Klages schätzen die Möglich­keiten, im nahen Wuhletal spazieren zu gehen,  die schnelle Verbin­dung mit U- und S-Bahn (dreißig Minuten) zum Alexan­der­platz.

Keines­wegs, – so erzählen mir verschie­dene Leute, mit denen ich spreche –, seien alle, die es sich leisten hätten können, im Lauf der  Jahre wegge­zogen. Aber der soziale Zusam­men­halt sei zerbro­chen. Nicht weil ganz Hellers­dorf sozial abgestiegen sei. Sondern weil ein soziale Gefälle entstanden sei, das die Gemein­schaft spalte. Die einen schämen sich für ihren Hartz-IV-Bezug, den anderen ist vor den verarmten Nachbarn ihr „besser­ge­stellt­sein“ unange­nehm. Wer sich schämt, bleibt in den eigenen vier Wänden.

Der Rückzug – die unsicht­baren Mauern durch­bre­chen

Eins der größeren Probleme in Hellers­dorf scheint nicht der Wegzug oder der Abstieg, sondern Entwer­tung und Rückzug zu sein. In fast allen Inter­views, die ich führte, spielte beides eine entschei­dende Rolle. Auch Tobias, Erzieher im Jugend­club U 5, der 32 Jahre alt ist und Bernd Preußer, der Politik­wis­sen­schaftler, Mathe­ma­tiker und Rentner ist, beschreiben den Rückzug. „Es gibt kaum Kneipen in Hellers­dorf“, sagt Tobias. Und Bernd Preußer beschreibt, wie seit den 1990er Jahren Restau­rants, die er mochte, geschlossen hätten. Nicht weil die Kaufkraft gesunken sei, – die sei etwa gleich geblieben, sondern weil viele Leute schlicht nicht „nach draußen zum Essen“ gingen. Und Mohhamed Alkhatis, der 27 Jahre alt ist, in Hellers­dorf wohnt, aus Aleppo stammt und an der Humboldt Univer­sität studiert, sagt: „Mir fehlt hier nichts. Aber es fehlen mir Orte, an denen ich mich mit Gleich­al­tigen treffen könnte.“ 

Der Rückzug hat vielfäl­tige Gesichter. Er ist die Einsam­keit derer, die nur noch an wochen­end­li­chen Bohrge­räu­schen hören, wenn neue Nachbarn ins Haus einge­zogen sind. Er ist die Sprach­lo­sig­keit und Ausge­grenzt­heit der Eltern im Geflüch­te­ten­heim.  Er ist die abend­liche Dunkel­heit auf dem Kasta­nie­bou­le­vard, der früheren Einkaufs­straße von Hellers­dorf, und wo fast alle, die man anspricht, gerade auf dem Weg nach Hause sind. Es ist der Rückzug aus dem öffent­li­chen Raum ebenso wie der Rückzug aus dem Engage­ment für das Öffent­liche. Dazu passt, dass – wie Bernd Preußer erzählt, Bürger­ver­samm­lungen schlecht besucht werden. Dazu passt auch, dass Hellers­dorf der Berliner Bezirk mit der geringsten Wahlbe­tei­li­gung ist.5 Es ist so, als würden viele Hellers­dorfer die öffent­liche Sphäre, die sie umgibt, nicht als ihre wahrnehmen.

Ähnlich wie Klages erzählten etliche Hellers­dorfer, die das Projekt über einen langen Zeitraum beglei­teten, dass sie nicht nur Veran­stal­tungen besuchten, sondern sich persön­lich mit ihm verbunden fühlten. Die einen verwirk­lichten eigene Projekte innerhalb des Projekts. Andere knüpften Netzwerke oder entwi­ckelten aus dem Projekt heraus Initia­tiven, die zu Selbst­läufer geworden sind und weiter­gehen. Allen gemeinsam ist, dass „Mitte in der Pampa“ bei ihnen dazu beitrug, soziale Mauern zu durch­bre­chen.

Connie Kahl, die nach Hellers­dorf zog, als die Neubauten noch mitten im Schlamm standen, ist eine davon. Wenn sie erzählt, entsteht vor dem geistigen Auge ein Hellers­dorf, das in den Anfangs­jahren alles andere als ein Ort sozialer Verkap­se­lung ist. Wie Frau Klage, zog sie in den späten 1980ern als junge Frau und Mutter nach Hellers­dorf. Weil der Matsch in den Höfen häßlich war, pflanzten die Nachbarn in Eigen­regie Sträucher, bauten Grille­cken. Und allein schon, um alles in Schuss zu halten, verstän­digten sie sich. Man kannte sich, fühlte sich verant­wort­lich. Der Rückzug hätte begonnen, als Landschafts­ar­chi­tekten die Höfe beplanten, sie einzäunten, das Selbst­ge­pflanzte heraus­rissen und die Gestal­tung durch eine neue, einheit­liche überschrieben. Mit dieser Überschrei­bung schwand nicht nur der Bezug der Bewohner zu ihren Höfen. Auch die Anlässe, zu kommu­ni­zieren, gingen verloren. Hellers­dorf wurde adretter und das Leben einfacher. Und Connie Kahl lernte, dass der Stadtraum etwas umkämpftes ist.

Überschrei­bungen – und die Erfahrung von Selbst­wirk­sam­keit

Um Überschrei­bungen geht es oft, wenn die Hellers­dorfer, mit denen ich gespro­chen habe, ihren Raum schwinden sehen, mit dem sie Identität verbinden.

Das alte Partei­ge­bäude ist ein Beispiel, das 1989 Schau­platz des Runden Tischs wurde und dessen Saal bis zu seinem Abriss allerlei Bürger­ver­samm­lungen diente. Es wurde abgebro­chen, um dem Baupro­jekt „Helle Mitte“ zu weichen.

Eins der raumgrei­fendsten Überschrei­bungen der letzten Zeit aber war die IGA, die für drei Jahre Großau­stel­lung 70 Hektar öffent­li­chen Park am Kienberg einzäunte, und dabei Anlagen, Wege und Bepflan­zungen revidierte. Dazu gehörten Räume, die vormals Orte spontaner Zusam­men­künfte unter freiem Himmel waren. Zum Beispiel eine Feuer­stelle auf dem Kienberg­gipfel, wo man Oster­feuer machte, picknickte, in Schlaf­sä­cken nächtigte. Dazu gehörten auch Orte, die die Hellers­dorfer in Eigen­ar­beit gestaltet hatten – wie eine alte Streu­obst­wiese, die Bürger ehren­amt­lich gepflanzt hatten, als der Kienberg vom Schutt­berg zum öffent­li­chen Stadtgrün wurde. Als die Pläne öffent­lich wurden, dass die IGA den Zugang zu dieser Öffent­lich­keit per Zaun und Eintritt limitierte, gründete Connie Kahl mit anderen zusammen die Bürger­initia­tive Kienberg. Ein Schritt, den Rückzug zu durch­bre­chen, gemeinsam für Öffent­lich­keit zu streiten. Wie Connie Kahl erzählt, war und ist dieser Schritt – „wegen dieser Scheu der Leute, sich zu exponieren“ nicht leicht. Die Initia­tive brachte eine Reihe von Vorschlägen ein, statt des abgezäunten zentralen Großpro­jekts, in ganz Hellers­dorf dezen­trale Gärten zu planen. Eine Idee war ein inter­kul­tu­reller Garten vor der Geflüch­te­ten­un­ter­kunft in der Maxie-Wander-Straße, wo  syrische, afgha­ni­sche, russland­deut­sche und „Althel­lers­dorfer“ zusammen gärtnern und kochen könnten. Sie stießen auf Wider­stand. Keiner ihrer Vorschläge floss in die Planungen ein. Im Gegenteil erlebten sie Misstrauen. Als Hellers­dorfer Bürger­initia­tive wurden sie gar verdäch­tigt, dem rechten Spektrum zu entstammen. Ein Bürger­pro­test aus Hellers­dorf! Was wäre da schon zu erwarten.

Für Connie Kahl und ihre Mitsteiter bedeutete „Mitte in der Pampa“ Respekt, Ermuti­gung, Austausch und die Erfahrung von Selbst­wirk­sam­keit. An der IGA-Bürgerbeteiligung geschei­tert, nahm die Kienber­ginitia­tive zur nGbK-Projektgruppe Kontakt auf. Frau Kahl sagt es so: „Die waren unvor­ein­ge­nommen, setzten sich mit uns ausein­ander, waren inter­es­siert an den Erfah­rungen, die wir einbrachten, – und daraus machten wir gemeinsam etwas“. Aus dem Impuls der Kienber­ginitia­tive, vor dem Geflüch­te­ten­heim einen inter­kul­tu­rellen Ort des Austauschs zu schaffen, entstand die Idee, dort den „place inter­na­tio­nale“ auszu­rufen. Eine enge Zusam­men­ar­beit begann, während der die Kienber­ginitia­tive, ihre Arbeit und Expertise an Hochschulen angebunden Teil von Netzwerken wurde. Diese Arbeit wird weiter­gehen, denn auch wenn die IGA ihre Zelte inzwi­schen abgebro­chen hat, werden Teile des Kienbergs nicht kosten­frei zugäng­lich sein.

Spielball sein – oder selbst Spieler werden

Um Teilhabe und die Erfahrung von Selbst­wirk­sam­keit ging es auch beim „Cricket für Alle“. Wir kehren an Ort hinter dem U-Bahnhof Cottbusser Platz zurück – die „Brache“ oder die „Grünfläche“, wie die Heller­dorfer das Stückchen Land nennen, das im U-Bahntakt Scharen von Menschen queren. Der „place inter­na­tional“, wie ihn die nGbK-Gruppe nennt. An seinem südlichen Rand gehen allabend­lich die Lichter der Geflüch­te­ten­un­ter­kunft in der Maxie-Wander-Straße an.

Habibullah Salil, 28 Jahre alt, lebt seit vier Jahren in Deutsch­land. Er stammt aus Afgha­ni­stan und flüchtete von dort. Er gehört zu denje­nigen, über die viele Hellers­dorfer sprechen, die sie selten sehen, mit denen sie nie in einen Austausch treten, die festsitzen und versorgt werden. Habibullah, genannt Habib, ist ein aktiver, sport­li­cher und sehr beweg­li­cher Mann. Bevor er floh, hatte er Cricket gespielt – als Profi. „In der Unter­kunft leben viele, die Cricket spielen“, erzählte er mir, „In Indien, Pakistan und Afgha­ni­stan ist Cricket das, was hier Fußball ist.“ Habibullah Salil und Sajid Khan, ebenfalls Bewohner der Unter­kunft, bekamen mit, dass es auf der „Brache“ eine Menge Aktionen gab. Sie lernten Adam Page kennen, der Mitglied der Projekt­gruppe und gebür­tiger Brite ist – und selbst Cricket spielt. Er nahm den Impuls auf, Cricket nach Hellers­dorf zu bringen.

„Cricket für Alle“ für alle nannten sie das Mitte-in-der-Pampa-Projekt, für das Habibullah und Sajid eine Mannschaft aufstellten und für das sie gemeinsam an einem Nachmittag das beinhohe Gras für ein Cricket­feld mähten. An Donners­tagen zeigten hier zwei Sommer lang Spieler aus der Unter­kunft Hellers­dorfer Kindern, wie man richtig wirft, und was runs und was wickets sind. Die Hellers­dorfer hatten dabei die Gelegen­heit, die Bewohner der Unter­kunft nicht als Bedürf­tige kennen­zu­lernen, sondern als Profis, als Spieler, die schwitzen und Punkte machen und Applaus verdienen. Auf den Tribünen aus Baupa­letten saß zwar keines­wegs ganz Hellers­dorf versam­melt, sondern meistens eine Menge Kinder, ein paar Leute aus dem Geflüch­te­ten­heim und ein paar aus den Häuser­blocks ringsum. Aber es waren dennoch Gelegen­heiten, Rollen neu zu definieren, es gab eine Menge sport­li­cher Begeg­nungen, an denen teilnahm, wer Lust dazu hatte. Und auf den Rängen fanden Gespräche statt. Was gefähr­lich wie Sozial­kitsch klingt, meine ich ernst. Es gibt wenig, was Hellers­dorf nötiger hätte. Nicht zuletzt hatten die Hellers­dorfer Spieler Erfolg. Beim Athletic Club Berlin in Hellers­dorf gründeten Habibullah Salil und Sajid Khan eine Abteilung Cricket. Sie spielten 2018 in der Regio­nal­liga und hoffen auf den Sprung in die Bundes­liga.

Ausblick und Resumee

 Mitte-in-der-Pampa war – wenn man die Geschichte von Jim Knopf kennt, das Gegenteil eines Schein­riesen. Den Schein­riesen trafen Jim Knopf und der Lokomo­tiv­führer in der Wüste „Ende der Welt“, und er hatte die Eigen­schaft aus der Ferne riesig zu wirken und aus der Nähe betrachtet, zu schrumpfen. „Mitte-in-der-Pampa“ gewinnt an Bedeutung, je näher man dem Projekt kommt. Es war kein Massen­er­eignis, hat aber etliche Menschen berührt, ermutigt und in Bewegung gesetzt. Es hat „kleine Siege“ hervor­ge­bracht und den Möglich­keits­sinn geschärft. Dabei war Kunst kein Gegen­stand von Kontem­pla­tion, sondern eher Methode.

Periphieren werden zu solchen gemacht. Peripherie zu sein ist keine Frage der Lage im räumli­chen Zentrum einer Stadt oder am Rand, sondern sie sind soziale Gegeben­heiten. Peripherie ist, wenn Menschen den Rückzug antreten. Wenn sie sich nicht als Teil der Öffent­lich­keit begreifen – und wenn sie nicht als solcher begriffen werden. Das Peripherie-sein kann durch­bro­chen werden. Mitte-in-der-Pampa war und ist ein Beitrag dazu.

Erschienen im Abschluss­band der Ausstel­lung: „Mitte in der Pampa, Kunst im Unter­grund zwischen Haupt­bahnhof und Cottbusser Platz“, nGbK, 2018

1 Sozial­be­richt Marzahn-Hellersdorf 2015, Hrsg.: Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf

2 ebd.

3 ebd.

4 ebd.

5 Bei Wahlen zum Abgeord­ne­ten­haus und Bundestag liegt die Betei­li­gung in der Großsied­lung Hellers­dorf rund zehn Prozent unter der Gesamt­ber­lins.