Eine Kreuzberg­geschichte

Wer glaubt, erfolg­reich zu sein, scheitert nur anders

Auf einem alten Foto sind Menschen zu sehen, die in einem unglaub­lich grauen Hof im Kreis herum tanzen. Sie sind barfuß und haben Schlag­hosen an. Darunter steht: Straßen­fest in der Cuvry­straße. Das Bild mutet ungefähr so histo­risch an wie die sepia­far­benen Licht­bilder aus der Jahrhun­dert­wende. Dabei stammt es aus den 1980er Jahren, der Zeit, als diese Gegend im hintersten Eck von Westberlin den großen Mythos von Kreuzberg schrieb. Die Cuvry­straße war damals eines der vielen besetzten Häuser in diesem Viertel. Die Ton Steine Scherben haben es besungen. 1001 Geschichte wurde erzählt. Davon, wie die Wider­stän­digen damals den Abriss stoppten. Von Straßen­schlachten. Vom Ausnah­me­zu­stand. Sie haben einen Mythos geschrieben. Und Mythen sind stark, wider­ständig und zäh wie Tauben­mist. Und keiner, der in Kreuzberg aktiv ist, kann ihnen entkommen.

Im Frühling vergan­genen Jahres hieß es plötzlich: „Kreuzberg ist wieder da“. Freilich war es immer da gewesen. Es sind ein paar Straßen­züge, zwischen Spree und Landwehr­kanal gelegen, heute ein recht normaler Innen­stadt­be­zirk mit Feier­tou­risten, Restau­rants und Straßen­cafés. Aber plötzlich war wieder Bewegung in Kreuzberg. Man hörte und las davon. Eigent­lich war nicht viel vorge­fallen. Nach einem Hausver­kauf hatte ein Immobi­li­en­be­sitzer einem altein­ge­ses­senen türki­schen Gemüse­laden – „Bizim Bakkal“ –  gekündigt. Danach hatten Nachbarn und Kunden vor dem Geschäft einen Frühling lang gepick­nickt, Veran­stal­tungen organi­siert und dabei beharr­lich den Erhalt ihres Ladens gefordert. Es waren immerhin so viele dabei, dass niemand wirklich sagen konnte, wie viele es waren. Auch wir waren dabei. Und waren beein­druckt und bewegt, so bewegt wie man eben ist, wenn Leute, die seit Jahren in den selben Straßen wohnen, sich plötzlich kennen­lernen und Sommer­abend für Sommer­abend lange zusammen draußen sitzen. Die Bürger­initia­tive, die dabei entstand – „Bizim Kiez“, schrieb Hausbe­sit­zern, die ihren Mietern Probleme berei­teten, einfach einen persön­li­chen Brief, in dem sie erklärten, dass sie den Erhalt des Mietver­hält­nisses forderten. „Bizim Bakkal bleibt – wir bleiben auch“, war der Slogan.Was sich dann ereignete, war überra­schend. Mit einem Mal kam ziemlich viel Presse nach Kreuzberg. Erst die Berliner Zeitungen, dann die Überre­gio­nalen. Von unserem Protest, der beacht­lich aber nicht gewaltig war, wurde über Nacht ein so starkes Bild gezeichnet, dass dieje­nigen, die ihn trugen, sich am Kopf kratzten und fragten: Sind wir das wirklich? Und überhaupt: Wer sind wir eigent­lich? Machen wir etwas anders als unsere Mamas und Papas aus der Schlag­ho­sen­zeit? Wenn ja – was ist das? Und last not least: Sind wir, gemessen an der sagen­um­wo­benen Hausbe­set­zer­zeit, eigent­lich nicht mehr als ein kleines und unbedeu­tendes Stroh­feuer? 

Ironi­scher­weise war es ein Hof in der Cuvry­straße, in dem wir uns über diese Fragen unter­hielten. Vermut­lich genau in jener, wo das Foto von den tanzenden Häuser­kämp­fern entstand. Eine Mutter, die zu Häuser­kampf­zeiten schon in Kreuzberg lebte – und jetzt bei Bizim Kiez mitmacht –, hatte Obst mitge­bracht und erzählte viel. Ihre Tochter, die heute Ende zwanzig ist, sprach weniger. Wir saßen in diesem Hof, wo damals der Putz nur so bröckelte und freuten uns darüber, wie schön grün Kreuzberg heute ist. Das Gespräch dauerte sicher­lich zwei Stunden lang. Ein paar Kinder tobten derweilen und zerdep­perten eine Flasche Bio-Pflaumensaft. Das meiste, was gesagt wurde, ist vergessen. Aber hängen blieb: Beide wunderten sich, dass man den Protest heute plötzlich mag.

Die Proteste von damals – die aus der Mythos-Zeit – waren vor allem eins: Sie waren wütend. Und aufwieg­le­risch. Die Spieß­bürger mochten sie nicht. Und dass die Bürger sie nicht mochten, schien Teil des Selbst­ver­ständ­nisses der Aufwiegler zu sein.

Heute ist das anders geworden. Als die ersten loszogen, um Unter­schriften für das Gemüse­ge­schäft „Bizim Bakkal“ einzu­sam­meln, bekamen sie überall freund­li­chen Zuspruch. Dabei war nicht versäumt worden, dazuzu­sagen, dass der Feind das Kapital, die Immobi­li­en­spe­ku­la­tion und so weiter sei. Umgekehrt, schien niemand, der sich dem spontanen Protest von „Bizim Kiez“ anschloss, darauf erpicht zu sein, irgendwen – außer den Immobi­li­en­spe­ku­lanten – zum Feind zu erklären. Was früher uncool gewesen wäre, nämlich Junge wie Alte, Schwarz­ge­klei­dete ebenso wie Jacket­träger, Sojamilch­trinker wie Hipster in den eigenen Reihen zu haben, störte offenbar niemanden. Statt großer Gesten – Häuser besetzen, Revolu­ti­ons­lieder  singen – setze man auf Pragma­tismus. Ausnah­me­zu­stand: eher nein. Statt das Biest bei den Hörnen zu packen und ihm die Fratze zu zeigen, wandten wir uns machbaren Dingen zu: zum Beispiel eine Kampagne für unseren Obstladen zu starten. 

Als uns im Kneipen­ge­spräch ein älterer Kreuz­berger vorwarf, statt Kritik zu üben, würden wir uns im Klein Klein ergehen, hielten wir entgegen: Die Zeit der großen Mythen sei eben vorbei! 

Natürlich kam alles anders. Wer glaubt, sich zu entziehen, scheitert nur anders. „Bizim Kiez“ war erfolg­reich. So erfolg­reich, dass nach der überre­gio­nalen Presse das Fernsehen kam, und anschlie­ßend Journa­listen aus Madrid, aus Istanbul und New York. Am liebsten mochten sie, dass „der Gemüse­pro­test“ so pragma­tisch, so divers und so freund­lich war. Der Gemüse­laden „Bizim Bakkal“ ist zum Mythos geworden. Nur aus diesem Grund zog der Eigen­tümer seine Kündigung zurück. Unser Händler vor seinen Melonen, davor die Nachbarn, die keine Schlag­hosen mehr, sondern Doc Martens oder auch Sneakers tragen – all das wurde so oft abgelichtet, dass man mit den Bildern ganz sicher ein Zimmer tapezieren könnte. Wer raus will, aus den Mythen, schreibt nur eine neue, modernere Kreuzberg­geschichte.

In seinem eigenen Windschatten arbeitet „Bizim Kiez“ derweilen weiter. Vielleicht ist eine neue politi­sche Kultur entstanden. Sie ist system­kri­tisch, ohne revolu­tionär zu sein, bevorzugt das Machbare, ohne phanta­sielos zu sein. Sie pflanzt Gärten, senkt Mieten. Wirkt beharr­lich, ist dabei freund­lich. Man darf abwarten, wie sich das alles weiter entwi­ckeln wird.

Anmerkung der Autorin: Das relativ entspannte Verhältnis der aktiven Menschen bei Bizim Kiez zuein­ander war eine Moment­auf­nahme der Anfangs­zeit.

Erschienen in der taz - 06. Februar 2016