Der Gemein­sinn

Wie man gewaltige Aufgaben bewältigt

Ob den ländli­chen sozialen Struk­turen die nächsten Genera­tio­nen­wechsel gelingen werden, wird davon abhängen, ob Ansässige und Zuzie­hende bereit sind, sich aufein­ander einzu­lassen. Das wird nicht ohne Zumutungen vonstatten gehen.

Wenn man mir die Begriffe „Branden­burg“, „Dorf“, „Gemein­schaft“ und „Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl“ hinwirft und mich fragt, was mir dazu einfällt, tauchen bei mir fast zeitgleich drei Bilder auf. Das erste ist die Innen­an­sicht eines früheren LPG-Zweckbaus, das dem Dorf bei Beeskow, wo wir seit einigen Jahren an einem Haus herum­bauen, als Vereins­haus des Dorfclubs dient. Es strahlt ein wenig den Charme von Neonlicht und stapel­baren Möbeln aus. Aber die Dorfbe­wohner haben es mit sehr viel Einsatz in Eigen­ar­beit renoviert. Am Tresen hängen Fotos, die das Dorf abbilden, wie es sich nach dem Motto „Morgen­land“ verkleidet hat, – und das wiederum sieht großartig, furcht­frei und unbeschwert aus. Außerdem ist hier geglückt, was heute oft schwer fällt: nämlich den Genera­tio­nen­wechsel zu schaffen. Das Personal, das den Verein getragen hatte und zwischen 50 und 65 Jahren alt war, hat sich gerade um eine Kohorte von um die 30jährigen verjüngt. Bemer­kens­wert finde ich auch, dass etwa ein Viertel der Dorfbe­woh­ner­schaft im Dorfclub Mitglied ist. Wo man doch dem Land so oft attes­tiert, dass alle abgehängt, politik­ver­drossen und brain­drained seien, während die demokra­ti­sche Avant­garde in den Zentren der Großstadt gedeihe, empfinde ich das als eine gute Bilanz.

Das zweite Bild ist: Ich fahre mit meinem Freund Sascha aus Kiew über die Dörfer, die ich als durchaus lebendig empfinde, und er sagt: „Hier sieht es aus, als wäre eine Neutro­nen­bombe gefallen. „Das ist schon das sechste Dorf“, konsta­tiert er, „und wir haben noch keinen Menschen auf der Straße gesehen.“ Herab­ge­las­sene Rollläden im Abend­licht.

Das dritte ist eine Rückblende. Es ist die Erinne­rung einer Lehrerin aus dem Oderbruch, die ich einmal inter­viewt habe. Sie erzählte mir von ihrer Zeit als Jungleh­rerin in den 1970er Jahren. Dabei schil­derte sie mir Szenen von Ernte­bri­gaden und von Kindern, die ihnen ihr Mittag­essen aufs Feld bringen. Und von Jugend­li­chen, die mit ihren Rädern und Mofas über die Feldwege brettern – und um die man sich nicht zu sorgen brauchte, weil eigent­lich zu allen Tages­zeiten überall irgendwer war. Ein burleskes und aus heutiger Sicht fast bizarres Bild vom prallen Leben auf dem Acker.

Es fand einen starken Nachhall in mir. Nicht nur, weil es heute so fremd wirkt, sondern auch, weil es etwas sagt: Nämlich dass auf dem Land über die Jahrhun­derte hinweg durch den Zusam­men­hang von Arbeit und gemein­samer Aufgabe keine schwachen, sondern ausge­spro­chen starke soziale Zusam­men­hänge das Leben prägten. Nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten, weil Zusam­men­halt ja auch Kontrolle und Enge hieß. Vielleicht ist es das, was die Sache heute so verwir­rend macht: Dass eben derselbe Lebens­raum zum Sinnbild für erodie­rende Gemein­schaften geworden ist. Ein Sorgen­kind, das Kümmerer auf den Plan ruft, die mit Analysen, Programmen und anderem Besteck auf den Plan rücken und ratlos um den Patienten herum­stehen.

Ich glaube, wenigs­tens zu einem Teil beruht der Befund auf Missver­ständ­nissen. Wenn Sascha aus Kiew oder ich – mit einem über zwanzig­jäh­rigen Berlin­hin­ter­grund – übers Land fahren und Ausschau nach dem vitalen Gemein­wesen halten, suchen wir Menschen, die sich im Straßen­raum präsen­tieren. Der Inbegriff ist das Straßen­café. Die Sozio­logen, die diese Idee aufbrachten, bezogen sie auf das Städti­sche. Indem ihre Begriffe in die Werbung und in die Sprache von Planern und Archi­tekten einsi­ckerten, eroberten sie bald den Alltag. Das hat dazu beigetragen, dass viele, wenn sie „Leben“ suchen, im Grunde auf der Suche nach Tischen und Sonnen­schirmen auf Bürger­steigen oder einem Markt­platz sind. Den Dörfern in Branden­burg wird man so aber nicht gerecht.

Ich glaube, ihr Verständnis vom Gemein­samem in ihren Gemein­wesen hat weniger mit der Manifes­ta­tion von Präsenz in der Öffent­lich­keit zu tun, als mit dem gemein­samen Bewäl­tigen gewal­tiger Aufgaben. Sowie bei der Ernte. Aus dieser Perspek­tive betrachtet, schneiden unsere Dörfer gar nicht so schlecht ab. In vielen noch so kleinen Orten halten die Dorfbe­wohner ihre freiwil­ligen Feuer­wehren aufrecht, obwohl ihnen das wirklich viel abver­langt. Dazu müssen Feuer­wehraus­scheide und all die anderen Feste ausge­richtet werden. Die Landfrauen backen regel­mäßig Berge von Kuchen dafür.

Ein weiteres Missver­ständnis sind die räumli­chen Einheiten, auf die sich die Gemein­schaften beziehen. Eine Berliner Planerin erzählte mir von ihren Erfah­rungen, für ein Branden­bur­gi­sches Landstädt­chen und sein Umland ein Integriertes Entwick­lungs­kon­zept (INSEK) auf den Weg zu bringen. Dabei warben die Plane­rinnen unter anderem dafür, in kleinen Ortschaften gemein­same Infra­struk­turen wie etwa Feuer­wehren oder Nachbar­schafts­häuser zu schaffen. Meine Bekannte beklagte die mangelnde Offenheit der dörfli­chen Bevöl­ke­rung für die „gemein­de­über­grei­fende Koope­ra­tionen“. Die Gemeinde­vertreter aber erklärten, Vereine – und gerade Feuer­wehren – bräuchten einen gewach­senen lokalen Zusam­men­halt. Die Plane­rinnen legten ihnen ihre Vorbe­halte als Mangel an Gemein­sinn aus.

Das Missver­ständnis beruht darauf, anzunehmen, dass sich mit dem stetigen Wachsen der ländli­chen Verwal­tungs­ein­heiten sich die gelebten Einheiten mitver­än­dern müssten. Aber das tun sie nicht. Warum sollten sie auch?

Dabei meine ich, dass ein Erweitern des Wir-Gefühls und ein Weiten des Blicks hin zu größeren gemein­samen Räumen eine wunder­bare Idee sein kann. Es passiert ja auch hier und da. Wo es glückt, gelingt es aber weder durch den Charme bürokra­ti­scher Sparmaß­nahmen noch durch schlecht verpackte Erzie­hungs­ver­suche. Es klappt dort, wo Leute etwas schaffen, das frei von Hinter­ge­danken ist und einen eigenen Nutzen bringt. Mir fällt das Festival „Jenseits von Millionen“ dazu ein. Es wurde von Menschen ins Leben gerufen, die hier aufge­wachsen sind und denen niemand gesagt hat, diese Provinz müsste jünger und cooler werden und müsste ein Wir-Gefühl kreieren.

Das soziale Leben auf dem Land hat seine eigenen Stärken. Es gibt Dinge, die kann man hier richtig gut. Dennoch würde ich nicht sagen, dass alles in Butter sei. Denn die Struk­turen sind verwundbar und bedroht. Ob den vielen Vereinen, Feuer­wehren – und auch den Festi­val­or­ga­ni­sa­toren – der nächste und übernächste Genera­tio­nen­wechsel gelingt, wird davon abhängen, wer da ist, wer fehlt und wer kommt. Ob dieje­nigen, die kommen, bereit sind, sich auf die sozialen Struk­turen der Dörfer einzu­lassen, sich zu betei­ligen und etwas von sich zu geben. Und ob die sozialen Gefüge ihrer­seits bereit sind, sich zu öffnen. Das geht für alle Seiten nicht ohne Zumutungen vonstatten.

Unser Dorfverein beispiels­weise hat sich uns gegenüber geöffnet und uns aufge­nommen. Uns – zwei Berliner, die seltsame Sachen essen, die ihren Gehweg nicht ordent­lich machen und meinen, dass fünf Minuten nach der Zeit immer noch pünktlich sei. Das klappt verhält­nis­mäßig gut. Wir zapfen Biere, stehen am Grill oder helfen hier und da. Unser Beitrag zum sozialen Dorf ist dabei unprä­ten­tiös. Wir unter­stützen nach beschei­denen Kräften, was andere aufgebaut haben. Wo es uns passend erscheint, bringen wir auch das Unsere ein. Zum Beispiel ist ein Theater­stück in Planung, das auf dem Tanzboden des Dorfclubs aufge­führt werden soll. Die Idee geht auf unser Netzwerk zurück. Und vielleicht wird es gut. Aber wesent­lich für das Dorf sind andere Veran­stal­tungen. Nämlich die, die regel­mäßig statt­finden und viele einbinden – wie das Oster­feuer, die Fastnacht oder das Weihnachts­baum­ver­brennen.

Wenn man dem sozialen Leben auf dem Land etwas wünschen möchte, ist es, dass es Resilienz und die Fähigkeit zur Trans­for­ma­tion entwi­ckelt, ohne sich selbst zu verlieren. Dabei ist nicht nur nötig, dass alte und neue Landbe­wohner sich aufein­ander einlassen, sondern es müsste tatsäch­lich darum gehen, die Formen der je anderen zu sehen und zu respek­tieren.

In diesem Punkt bin ich optimis­tisch. Es ist eine der – für mich – unerwar­teten Lektionen, die ich in unserem Dorfverein gelernt habe. Erwartet hatte ich Ressen­ti­ments uns gegenüber. Aber es kamen kaum welche. Die Mitglieder des Vereins sind gewohnt, tiefe Risse und Spannungen mitein­ander auszu­halten, die zum Teil seit Genera­tionen bestehen. Hier kommen Leute unter­schied­li­chen Alters und Bildung, unter­schied­li­chen Einkom­mens und Weltan­schauung zusammen. Sich anhand dieser Kriterien auszu­dif­fe­ren­zieren, würde im Dorf schlicht keinen Sinn ergeben. Was dabei heraus­kommt, erinnert an ein Mehrge­ne­ra­tio­nen­haus, das einen reichen Erfah­rungs­schatz damit hat, sehr vieles zu integrieren. Auch städti­sche Neulinge mit anderen kultu­rellen Vorlieben. Wie uns.

Erschienen in der Abschluss­pu­bli­ka­tion des Projekts „Neue Auftrag­geber“:

„Neue Auftrag­geber, Kunst im Bürger­auf­trag“ Autoren: Gerrit Gohlke, Alexander Koch, Tina Veihelmann, Hrsg. Gesell­schaft der Neuen Auftrag­geber, Verlag Spector Books 2022