Die Geschichte von Pedro Chibule ist eine sehr brandenburgische Geschichte. Sie beginnt mit dem brandenburgischen Wald. In Müllrose nah am Campingplatz gibt es ein Waldstück mit hohen gerade gewachsenen Kiefern. Pedro Chibule ist mit mir hier hergefahren, um mir die Bäume zu zeigen, die er vor 40 Jahren gepflanzt hat. Damals waren sie noch klein wie ein Daumen. Jetzt sind sie hoch. Die Stämme kahl. Um die Kronen zu betrachten, muss man den Kopf leicht zurück legen.
Im Jahr 1981 flog Pedro von Mosambik, in die DDR, um vier Jahre lang als Vertragsarbeiter eine Ausbildung als Forstfacharbeiter zu machen. 41 junge Männer, alle etwa zwischen 18 und zwanzig, kamen dazu nach Müllrose in den staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb. Pedro kam aus Maputo, der Hauptstadt von Mosambik, Familie mit fünf Kindern, sein Vater Automechaniker. „Forstarbeit“, sagt er, „war nicht mein Traumberuf. Eigentlich wäre ich lieber Automechaniker geworden wie mein Vater. Aber in diesem Alter denkt man nicht so sehr an später, sondern lebt stärker in der Gegenwart.“ In der Gegenwart, damals, interessierte ihn vor allem, ins Ausland zu gehen. Die Welt zu sehen. Warum nicht die DDR? Die Idee hatte er mit Kumpels gemeinsam. Gemeinsam bewarben sie sich und wurden genommen. Das Vertragsarbeiterprogramm versprach eine Fachausbildung, um das sozialistische Mosambik, das gerade die portugiesische Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte, beim Aufbau zu unterstützen. Pedro hatte als einziger der Jungs in der Schule als Fremdsprache Deutsch gehabt, deshalb sollte er Sprachmittler werden. Aus diesem Grund kam er als erster von allen allein in Müllrose an.
Pedro begutachtet seine Bäume. Damals pflanzten sie unheimlich viel neuen Wald. Zwischen 1.000 und 5.000 junge Bäume waren die Tagesnorm. „Kahlschlag, Neuaufforstung war damals die forstliche Formel“. Kahlschlag, Neuaufforstung erlernte Pedro, für das sozialistische Bruderland. Wo alte Kiefern standen, wurde großflächig geschlagen, dann wurde neugepflanzt. Pedro erklärt, wie das lief: Man pflanzte eng, und sowie die Bäume größer wurden, entnahm man immer wieder Bäume. „So ein Wald braucht viel Pflege, bis er ein richtiger Wald geworden ist.“ Zu DDR-Zeiten hieß das, dass der Wald beständig aufgeräumt wurde. Alles wurde verwertet. Nicht nur die geraden, stattlichen Stämme, sondern auch die dünnen und krummen. Eben alles. In einer schweren handwerklichen Arbeit, die Pedro noch beherrscht, junge Forstfacharbeiter heute aber nicht mehr können, haben sie dünne Stämme und Reisig in drei Meter langen, metallenen Gestellen gepresst, die mit Draht umwickelt wurden. Die gepressten Bündel nannte man „Faschine“. Man verwendete sie zur Befestigung von Uferböschungen. Während wir stehen und reden, parken Ausflügler, schlagen Autotüren zu, gehen Richtung See und scheinen Pedros Wald überhaupt nicht wahrzunehmen. Die Mücken stechen, und ich bekomme eine Ahnung davon, wie schwer Forstarbeit noch vor vierzig Jahren war. Es gab Pferde, um Stämme zu „rücken“. Es gab mehr Unfälle als heute. Es gab einen riesigen Holzplatz, wo die Stämme geschält und per Schiene abtransportiert wurden. Heute werden die Stämme mit LKWs gefahren. Jeder Abnehmer schickt seine eigenen Transporter. „Nach der heutigen Auffassung wird Holz nach und nach geerntet“ erklärt mir Pedro. Die Reihen sind nicht mehr so recht gerade, deshalb. Er weist mit dem Arm, wie die Reihen verliefen, als sie noch unversehrt waren. Es riecht nach Harz, nach Sand und nach Sommer. Und ich beginne, diese Art von Wald besser zu verstehen.
Wir reden über Forstwirtschaft und den damals riesigen Forstbetrieb, über den Holzplatz und eine Gaststätte, die es dort gab, wo man abends noch Bockwurst und ein günstiges Bier kriegen konnte. Ob die Vertragsarbeiter in der DDR nicht interniert waren, will ich wissen. Zur Vorbereitung auf das Gespräch hatte ich etliche Artikel gelesen. Danach hatte ich eine Menge trauriger Bilder im Kopf. Zuerst der Kulturschock am Flughafen: als Schwarze den Blicken der Weißen ausgesetzt. Dann die Isolation. Die DDR, lese ich so gut wie überall, habe versucht, die Vertragsarbeiter von der Bevölkerung fernzuhalten. Schließlich die 90er Jahre: rassistische Übergriffe, Angst. Meine Annäherung erweist sich nicht als Türöffner. Im Gegenteil. Das Wort „aufgebracht“ trifft es nicht. Denn Pedro Chibule wirkt wie einer, der es sich nicht nehmen lässt, eine ruhige Freundlichkeit ausstrahlen. Komme was wolle. Aber er wirkt leicht genervt. Da sei einmal ein Mann vom Fernsehen gekommen, der habe genau all diese Fragen gestellt. Er habe alle genau beantwortet, „so wie dat war“. Aber gesendet worden sei etwas völlig anderes. Das sei ein Problem. Denn genau, weil sie nicht abgeschirmt gelebt hätten, gibt es in Pedros Leben viele Leute, die er kennt und die ihn kennen. „Der Forst war ein großer Arbeitgeber. Jeder dritte ungefähr arbeitete hier.“ Wenn man mit Pedro unterwegs ist, grüßt alle Nasenlang jemand: „Na, Pedro, hast du den Feierabend verschlafen?“ „Hey Pedro, hast du heute ein Rendezvous?“ Pedro scherzt zurück. Scherzchen hier, Scherzchen da. Was das für Leute seien? Leute, die noch Kinder waren, als er nach Müllrose kam und die jetzt erwachsen sind. Wie zum Beispiel diese Frau, die heute seine Kollegin ist. Leute, die früher mit ihm feiern waren. Leute die später Kinder im Alter seiner Kinder hatten. Unterm Strich: Leute, die ihn nach so einer Sendung fragen: Pedro, was für einen Mist erzählst du denn da über uns?
Schon als er ankam, erzählt er, sei er in einer Familie gelandet, weil die Unterkunft, in der sie wohnen sollten, noch nicht fertig war. Ganz kurz nur kam er in einem Gasthaus unter. Dann sagte ein Kollege zu ihm: „Mensch, du bist doch noch viel zu jung, um so alleine zu wohnen. Und so zog er bei dem Kollegen ein. Der Sohn des Kollegen war in seinem Alter, nach Feierabend waren sie gemeinsam unterwegs. Aber auch später, als alle 41 jungen Männer in die Wohn- und Lehrstätte eingezogen waren, waren sie oft bei Leuten zu Gast. „Manche waren fast wie Gastfamilien für uns. Wir waren zum Essen da, zum Grillen, zu Festen.“ „Unsere Schwarzen“ hätten die Leute sie genannt. Die Ausdrucksweise sei „nicht böse“ gemeint gewesen, und er habe das auch nicht so aufgefasst. Er mag auch nicht, wenn man ihm unterschiebt, wovor er Angst habe, sich verletzt fühle oder was ein Problem für ihn sei. Die mitfühlende Perspektive, die den weißen Blick auf Schwarze problematisiert, stellt sich selbst als problematischer Blick heraus. Auf ihn, Pedro nämlich, der seine Geschichte anders erzählen würde. Unaufgeregter, freundlicher.
Zum Beispiel habe er, als er am Flughafen Schönefeld landete, keinen „Schock“ bekommen. „In meiner Schule in Maputo waren viele Weiße und viele Asiaten, weil Mosambik klassisch viele Handelsbeziehungen zu Indien hat. Ich war Weiße gewohnt“.
Wir gucken Fotos an. Die Unterkunft, ein Zweckbau, der heute nicht mehr steht. 41 Mosambikaner auf einem Spreewaldkahn. Immer wieder die Kumpels, wie sie herumblödeln, Hammondorgel oder E-Gitarre spielen. Immer wieder ihr Ausbildungsleiter, Karl-Heinz Tombreul hieß er, der sich um alles mögliche kümmerte – unter darum, dass sie eine Fußballmannschaft aufstellten. Die Mannschaft hieß: „Die Mosambikaner“ und spielte in Müllrose, in Biegen oder Neubrück. Manchmal traten sie auch gegen eine andere Vertragsarbeitermannschaft an, nämlich die der Beeskower Vietnamesen. Auch die Russen aus der Kaserne hätten eine Mannschaft gehabt. Pedro spielte gut Fußball. „Im Fußball“, sagt er, seien die härtesten Gegner die Vietnamesen und die Russen gewesen. So kamen sie in der Umgebung herum. Einer von ihnen, Mario Mabessa, konnte Bassgitarre spielen, sang gut und spielte erst in einer Band aus Grunow und später in einer aus Niewisch, die sich „die Kellermeister“ nannten. An ihre Auftritte erinnert man sich in den Dörfern noch heute. „Die sind richtig jut jewesen.“ Mario, ein Gesangstalent und eine Stimmungskanone. Pedro fuhr öfter den Bandbus, Konzert um Konzert, in Städten wie Beeskow, Storkow oder Eisenhüttenstadt und in unzähligen Tanzsälen von Dorfgaststätten. Vorkommnisse mit Rechten oder Neonazis? Pedro kann sich nur an zwei Vorfälle erinnern. Einmal stachen Unbekannte während eines Konzerts die Reifen von Marios Auto auf. Einmal war eine Pöbelei bei einem Fest. Leute, die sie kannten, gingen dazwischen. In Angst lebte er nie. Viel wichtiger ist ihm, zu erzählen, wie viel Leben damals in den Dörfern und kleinen Städten war. Für seine drei Töchter, die alle nach Berlin gezogen sind, ist „Frankfurt-Oder heute ein Nest, wo nichts los ist. Für uns war das die Stadt, wo wir hin tanzen gefahren sind“.
Als Pedros Zeit als Vertragsarbeiter um war, stellte man ihm frei, ob er zurückkehren oder in der DDR bleiben wollte. Weil in Mosambik inzwischen Bürgerkrieg war, bestand das Land nicht auf Rückführung seiner Arbeitskräfte. Für Pedro war die Sache klar. Er hatte eine Freundin, sein erstes Kind war schon unterwegs. Es gab nichts, was er in Mosambik vorhatte, aber einiges, das ihn inzwischen mit Müllrose verband.
Heute lebt Pedro mit seiner Frau in einer Wohnung nah am Müllroser See. „Nur ein paar Schritte, und ich bin am Wasser. Was will ich mehr?“ Von den 41 Mosambikanern sind noch vier geblieben. Einer arbeitet bei der Stadt, einer bei der Straßenmeisterei, der Dritte arbeitet in Frankfurt-Oder in einer Behindertenwerkstatt. Sie treffen sich heute noch. Gern, aber nicht mehr so oft. „Altersbedingt trinken wir weniger, wenn wir uns sehen.“ „Ich war der Erste hier. Vielleicht werde ich auch der Letzte sein.“
Erschienen im Kursbuch oder-spree 2024