Neue Ohrringe für die Kühe

Wie ein Mann von auswärts den Urader Bauern die EU erklärt

Urad ist ein polni­sches Dorf an der Grenze zu Deutsch­land. „Wilder Westen“ wird diese Gegend in Zentral­polen manchmal genannt. Die Häuser in Urad stehen seltsam verstreut, weil es viele Kriegs­lü­cken gibt, in die niemals neu gebaut wurde. Hier wachsen nun Gras und Gesträuch, es laufen Enten herum, manchmal auch Schweine. In der Luft liegt der Geruch von Holzfeuer.

In Urad kündigt sich das Zusam­men­wachsen Europas an, indem vor dem Sprit­zen­haus ein Wagen mit Warschauer Kennzei­chen parkt. „Wenn ein Wagen aus Warschau parkt, heißt das selten was Gutes“, kommen­tiert eine Frau, die gerade das Feuer­wehr­haus, einen türkis­grünen Flachbau ansteuert, beide Hände in den Taschen ihres Anoraks. Der parkende Wagen gehört der „Agentur zur Moder­ni­sie­rung der Landwirt­schaft“. Sie wird heute den Leuten aus Urad erklären, was es bedeutet, Teil der Europäi­schen Union zu werden.

Das Feuer­wehr­haus ist im Dorf der zentrale Ort des öffent­li­chen Lebens. Würde der Minis­ter­prä­si­dent Polens zu Besuch kommen, fände auch dieser Empfang hier statt. Die Wände sind zu drei Vierteln blattgrün in Öl gestri­chen. Es riecht nach Linoleum. Das Interieur besteht aus braunen Metall­stühlen, die man stapeln kann. Wenn ein Tisch­ten­nis­tur­nier ist, stehen sie als Turm in einer Ecke, wenn Disco ist, stehen sie um die Tanzfläche herum. Heute hat sie der Dorfvor­steher um lange Tische gruppiert und an der Stirn­seite einen Overhead­pro­jektor aufgebaut.

Aus dem Dorf sind zwölf Männer und zwei Frauen erschienen, nach und nach und ohne zu grüßen. Sie sitzen schwei­gend da, haben Gesichter, die schon im Frühjahr wetter­braun sind, und man weiß nicht, was sie denken. Sie tragen dicke Stiefel, Parkas und wattierte Jacken. Im Gegensatz zu den Vorboten der Europäi­schen Union sind sie mit den Tempe­ra­turen in der Feuer­wehr­re­mise vertraut, die selbst bei gutem Wetter warme Kleidung gebieten, denn durch die schmalen Fenster mit den braunen Vorhängen fallen nur wenige Sonnen­strahlen. Jemand hat den Kachel­ofen geheizt. Einer der Fremden in einem zu dünnen Anzug wärmt seinen Rücken an ihm. Eine Dame im Kostüm verteilt Instant­kaffee in Pappbe­chern.

Der Leiter der „Agentur zur Moder­ni­sie­rung der Landwirt­schaft“ ist zwar nicht der Minis­ter­prä­si­dent Polens, doch auch er trägt ein Hemd und ein Jackett und fröstelt in der Urader Feuer­wehr­re­mise. Er ist ein leicht rotge­sich­tiger Herr, den ein Namens­schild als Herrn Piorkowski ausweist. Er geht auf und ab, sortiert seine Folien, kramt in seiner Akten­ta­sche und wirkt neben den Uradern in ihren Parkas depla­ziert. Keines­wegs wie der Staats­mann aus einer anderen Welt - der gerade die agrari­schen Kulturen seines Landes besich­tigt und am Abend Krimsekt trinkt. Sondern wie einer, der vermut­lich aus dem nahe gelegenen Slubice kommt und dessen Figur nicht ganz zur Anzugs­kon­fek­ti­ons­größe passt. Das Irritie­rende an ihm ist, dass er ständig in Bewegung ist. Seine Hände mit den kurzen, roten Fingern strei­cheln einen silbernen, kleinen Zeige­stock, während er redet, seine Stirn­falten kräuseln sich, als der Overhead­pro­jektor nicht gleich funktio­niert. Er lächelt und wendet sich fröhlich an die reglos sitzenden Bauern, als es schließ­lich doch klappt. An der fast weißen Wand erscheint die Projek­tion von etwas, das aussieht wie der Querschnitt eines Fahrrad­dy­namos. „Das sind die neuen Ohrringe für die Kühe“, erklärt Herr Piorkowski. Sie müssen exakt 55 - 63 Milli­meter in der Breite und 68 - 79 Milli­meter in der Höhe messen. Die nächste Folie zeigt ein Formular, mit dem man die Regis­trie­rung einer Kuh beantragen kann. Ein vorläu­figes, denn Warschau hat sich auf das endgül­tige Aussehen des Papiers noch nicht geeinigt. Herr Piorkowski spricht begeis­tert von der neuen Ordnung, der Moder­ni­sie­rung der Verhält­nisse, von europäi­schen Standards und davon, dass Urad nun auch in Europa ankommen müsse. Das Schlachten müsse man humani­sieren! „Nicht mehr Prinzip Amerika!“ Der Bauer stehe vor dem Schwein­chen und schlage ihm einfach ein Beil in den Kopf. Das sei ja ein schreck­li­ches Bild. Und das Blut tropft in einen Eimer. In der Europäi­schen Union wird im Schlacht­haus geschlachtet.

Die Augen der Leute folgen manchmal den Bildern, die an der Wand erscheinen, öfter aber Herrn Piorkowski selbst. Dieser Mann von auswärts, der ihnen, obwohl er sie nicht kennt, ständig gewinnend in die Gesichter lächelt. Die Urader erwidern dieses Lächeln nicht, sie blocken es auch nicht ab, sie beobachten es. Wie etwas, das hier nicht recht hergehört und deshalb einen inter­es­santen Blickfang bietet, wenn man gerade nicht so genau zuhören muss. So, wie man in der Kirche lieber zusieht, wie dem Pfarrer ein Tropfen von der Nase rollt, statt ihm beim Predigen zuzuhören.

Das Gute an der Europäi­schen Union: Für jeden Hektar Land gibt es 118 Euro EU-Subvention - jährlich. Auch das erfahren die Bauern aus Urad von der „Agentur zur Moder­ni­sie­rung der Landwirt­schaft“. Berech­tigt ist nur, wer mehr als einen Hektar Land besitzt. Die meisten hier sind demzu­folge nicht berech­tigt. Sie haben fast alle offiziell knapp unter einem Hektar Land. Der Grund dafür ist, dass man zu Zeiten des Sozia­lismus eine spezielle Rente erhielt, wenn man sein Land an den Staat abgab und weniger als einen Hektar behielt. Damals bekam derjenige Geld vom Amt, der sein Land abstieß. Heute können dieje­nigen etwas gewinnen, die große Felder haben. Ob EU oder Arbeiter- und Bauern­staat. Die Bürokratie ist ein Basar. Willkür­lich ist es immer. Es muss geschickt sein, wer abräumen will. Manche Urader meinen, mit der Europäi­schen Union komme eine Art Sozia­lismus zurück.

Mittler­weile wird an die Wand eine Karte mit vielen Linien und Buchstaben proji­ziert. Der Vertreter der „Agentur zur Moder­ni­sie­rung der Landwirt­schaft“ erklärt, wie man die Subven­tionen beantragt. Jeder Bauer solle wahrheits­ge­treu den Umfang seiner Felder angeben. Die Behörde vergliche dann alle Flächen im Antrag mit dem Grundbuch. „Keine Chance für Trick­se­reien“, sagt er und klopft mit dem Zeige­stöck­chen auf die Karte, die die Grund­stücks­grenzen laut Kataster zeigt.

Es ist das erste Mal, dass die Minen der Urader lebhaft werden. Dass ein Mann sogar leise lacht. Dass sich der Dorfvor­steher, ein kräftiger Mann mit freund­li­chen, blauen Augen, dem links ein Daumen fehlt, gar Herrn Piorkowski zuwendet und ihn aufklärt: Die Grund­stücks­grenzen, die im Grundbuch stehen, hätten mit den wirkli­chen Größen der Wiesen und Äcker überhaupt nichts zu tun, sagt er. Er trägt es im Stil einer sachli­chen Erklärung vor, ohne den leisesten Anflug eines schlechten Gewissens: In Urad handhabe man die Sache so, dass man die Felder trenne, zusam­men­lege, kaufe oder verkaufe, wie es eben die Lage erfor­derte. Und so änderten sich die Felder­grenzen. Das Grundbuch aber - das lasse man immer so wie es ist. So spare man das Geld für einen Eintrag beim Katas­teramt. Und in Urad wisse man ohnehin Bescheid, wem was gehört. Piorkowski hört nicht auf, aufge­räumt in die Runde zu sehen. Er möchte nur wissen, aus welcher Zeit die Grund­buch­ein­tra­gungen stammen. Sie müssten aus den siebziger Jahren sein, schätzt der Dorfvor­steher.

Von allen Uradern besitzt den größten Hof Andrzej Gontar­czyk. Er hat ihn außerhalb, im nahen Swiecko. Er hält Kühe und Schweine und bewirt­schaftet 120 Hektar Land. Ein paar Tage nachdem der Warschauer Wagen aus Urad verschwunden ist, gewährt Andrzej einen Besuch. Andrzej hat ein sanft­mü­tiges Gesicht und trägt ein Holzfäl­ler­hemd. Was für ihn die Europäi­sche Union bringen werde? „Das weiß niemand“, sagt Andrzej. „Ich vermute es wird wieder wie vor der Demokratie.“ Es fährt ein Opel Astra mit einem Anhänger auf den Hof. Ein Mann in Gummi­stie­feln steigt aus, er möchte ein Schwein kaufen. Andrzej führt den Fremden in den Stall. Als sie zurück­kehren, feilschen sie noch. Andrzej zerrt an einem Schwein, das um sein Leben quietscht und bockt. Er nimmt ein Beil und schlägt ihm ins Genick. Das Schwein­chen kippt zur Seite, das Blut tropft in eine Schale. „Prinzip Amerika“.

Ob Andrzej auch „vor der Demokratie“ so geschlachtet habe? „Das ist nicht Schlachten“, sagt Andrzej. Er habe das Tier nur fertig gemacht für den Transport. Als es ausge­blutet ist, werfen sie das reglose Tier mit einem Ruck auf den Hänger. Der neue Besitzer steigt ein, klappt die Tür des Opel zu und braust davon.

Erschienen im „schein­schlag“ und in „der Freitag“ am 30. April 2004.

Die Reportage entstand kurz vor dem Beitritt Polens in die Europäi­sche Union.