Zwei Ufer eines Flusses

Jahrhun­derte lang waren Aurith und Urad an der Oder ein Dorf - bis der Fluss deutsch-polnische Staats­grenze wurde.

Das Dorf Aurith liegt am Ufer der Oder - an der Grenze zu Polen. Es ist ein Dorf am Deich, eine Gegend am Rand der Welt. Östliches Branden­burg. Deutsch­land sieht hier nur hin, wenn die Handvoll Häuser in den Oderfluten untergeht. Wenn ein “Jahrhun­dert­hoch­wasser” Katastro­phen­ge­schichten erzählen lässt. Sonst ist es hier so still, dass man ein Fahrrad­pedal quiet­schen hört. Struk­tur­schwach wird diese Gegend in den Zeitungen genannt. Es gibt 20 ordent­liche Häuser, eine Dorfstraße, zwei Gasthäuser und einen Spazierweg am Deich.

An manchen Tagen fühlt man sich am Aurither Oderufer wie an der See. Weil der Fluss so weit ist, wenn er viel Wasser führt. Weil er bei starkem Wind so viele Wellen treibt. Und weil man nicht auf die andere Seite gelangt. Ein Fähran­le­ge­steg ragt hundert Schritt weit in die Oder. Man kann bis zur Spitze gehen, die Jacke enger um sich ziehen und hinüber sehen. Drüben zeigt ein anderer Fährsteg weit in den Fluss. Er sieht aus wie das Spiegel­bild der Bühne, auf der man steht. 50 Meter fliegt ein Stein, den ein guter Werfer herüber­schleu­dert.

Früher hat eine Fähre Menschen, Kühe, Pferde und Wagen über den Fluss gefahren. Diesseits der Oder bestellte man die Felder, weil die Böden tiefer lagen, im Frühling oft Land unter standen und im Herbst bessere Ernte trugen. Drüben kaufte man ein, feierte Hochzeit und begrub die Toten. Ein silber­graues Dach, das man hinter den Pappeln erkennen kann, gehört dem Dorfschul­haus. Heute ist die andere Dorfhälfte ein anderes Dorf in einem anderen Land. Hier ist Deutsch­land, drüben ist Polen. Das polnische Dorf hat man Urad genannt, das deutsche Dorf behielt den Namen Aurith.

40 Kilometer muss man heute mit dem Auto fahren, wenn man von Aurith nach Urad gelangen will. Erst legt man 20 Kilometer Richtung Norden zurück, passiert in Frankfurt/Oder den Grenz­über­gang und fährt dann ebenso viele Kilometer in die entge­gen­ge­setzte Richtung. Irgend­wann erreicht man das Schulhaus mit dem silber­grauen Dach. Nicht weit davon sind die Kirche und ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, vor dem im Sommer die Männer ihr Bier trinken. Auch Urad liegt am Rande der Welt - nur von Polen aus gesehen. Die Häuser stehen seltsam verstreut, als habe ein Kind begonnen, aus Bauklötzen ein Dorf zu bauen und hätte auf halbem Wege keine Lust mehr gehabt. An sandigen Straßen sind die Höfe wie Perlen auf einer Kette aufge­reiht, doch dann und wann öffnet sich ein freies Feld, groß wie ein Fußball­platz. Kleine Trampel­pfade mäandern darüber. Ein Weg führt ans Ufer, an den Fährsteg, von dem kein Boot mehr ablegt. Möwen kreisen. 

Wenn in Urad die Hunde bellen, schlagen auch in Aurith die Hunde an. Die beiden Dörfer sehen sich, hören sich und spüren sich. Aber kaum jemand ist je auf der anderen Seite gewesen. “Was soll ich bei den Polskis”, sagt Thomas Jurke, der in Aurith in seiner Garage gerade sein Auto repariert.

Moddern und Wildern

Als Heinz Thurian 1946 nach Aurith kommt, wagt er nicht, an den Fluss zu gehen, denn das Ufer wird von russi­schen Reitern bewacht. Er hatte sich auf Aurith gefreut, das sein neues zu Hause werden sollte.

“Zu Hause” war bis vor kurzem Saude, ein Dorf in Schlesien. Nun ist Saude polnisch geworden, und der 14-jährige Thurian lief mit seiner Mutter, den Geschwis­tern und der Großmutter eine weite Strecke, um schließ­lich im Sammel­lager Fünfei­chen zu sitzen, wo die neuen Heimat­orte zugeteilt wurden. Man konnte sich leise die Namen vorsagen und sich vorstellen, wie es dort aussehen würde. Aurith, Zilten­dorf, Vogelsang. Die Orte seien leer, hatte es geheißen. Alle früheren Bewohner seien geflüchtet. In Aurith gebe es ein Gutshaus, und die Oder fließe direkt vor der Tür. Thurian hatte sich in einem Fluss schwimmen sehen. Die Sonne kitzelte ihn im Gesicht und trocknete kleine Wasser­tröpf­chen.

Es wird nichts aus der Idee, baden zu gehen. Die Reiter haben Pistolen und sehen unfreund­lich aus. Eine Fähre ist gesprengt, das Gutshaus ist abgebrannt. Von Aurith ist nicht mehr als eine Halde Ziegel geblieben, und das Land ist beinhoch mit Disteln bewachsen. Zu Hause muss man sich selbst bauen.

Thurian ist heute 75. Er sitzt im “Bauern­stüb­chen”, wo hinter ihm eine Gerichts­show im Fernsehen läuft, und trinkt ein Bier und einem Klaren. “Eine Einheit”, sagt er dazu. Sein weißes Haar sieht immer aus wie gerade gekämmt und dennoch störrisch, und er strahlt eine gelassene Heiter­keit aus. “Ging alles”, sagt er. Und “Gehungert haben wir nie.”

Er berichtet, wie sie anfangs im Keller einer Ruine wohnen. Wie sie alle gemeinsam das Feld bestellen, und auch die einarmige Großmutter auf dem Acker herum läuft und Disteln aus dem Boden zieht - auf dieser Arbeit habe sie immer bestanden. Er erinnert sich, wie sie bei Niedrig­wasser halb bewusst­lose Fische aus den schlam­migen Schwemm­seen holen - moddern nennen sie es. Wie sie Schlingen legen, um Rehe zu fangen. Wie sie das Chaos der Nachkriegs­jahre nutzen, und die Ernte in der Scheune behalten, statt sie plangemäß abzugeben. Es sind Geschichten aus einer anarchi­schen Zeit, die von Raffi­nesse und kleinen Finten handeln, den schlechten Zeiten ein Schnäpp­chen zu schlagen. Nie geht es um die verlorene Heimat - und immer wieder geht es um das Impro­vi­sieren.

Thurians reparieren ein Haus mit Brettern und Steinen, die sie auf den Trümmer­haufen sammeln. Das Dach decken sie teils mit Schilf und teils mit Ziegeln. Regen­dicht ist es nicht. “Ging alles”, sagt Thurian, und nimmt einen tiefen Schluck aus dem Glas. “Ging alles” ist sein Lieblings­spruch. Thurians Freund Karl lebt in einer Holzhütte, um die seine Eltern zur besseren Wärme­däm­mung Erde geschichtet haben. Es sieht aus wie ein kelti­scher Grabhügel, und oben ragt ein Schorn­stein aus Granat­hülsen heraus. Während sie an ihren Provi­so­rien basteln, hören sie immer wieder, wie es am anderen Ufer poltert und kracht. Und manchmal sehen sie Höfe einstürzen. Thurian schüttelt den Kopf, als könne er es heute noch nicht fassen.

Als das so genannte “Neubau­ern­pro­gramm” aufgelegt wird, dürfen sich die Siedler aus den Steinen der Ruinen neue Häuser bauen. Für Mörtel und Bauma­te­rial erhalten sie einen günstigen Kredit. Die Siedler - ein Dutzend Familien, die alle aus schle­si­schen Dörfern kommen - zerlegen alles, was von der alten Domäne Aurith übrig ist. Senti­mental sind sie nicht. Sie bauen gemeinsam ein schle­si­sches Dorf.

Goldgrä­ber­dorf

Stanislaw und Zofia Kapica kommen im April 1946 in Urad an, weil sie aus der Bahn falsch ausge­stiegen sind. Sie sind aus Barano­wicze angereist, das heute in Weißruss­land liegt. Mehrere Tage haben sie im Zug verbracht, haben geschwiegen, Scherze gemacht und sich immer wieder versi­chert, dass es ihnen egal sei, wie es da aussähe, wo sie siedeln würden - sie würden ja zurück­kehren, sobald es möglich sei. Das Haus in Barano­wicze war eben fertig geworden, als die Stadt sowje­tisch und das Haus enteignet wurde. “Alles nicht von Dauer”, dachten sie und packten ihre Sachen.

“Alles nicht von Dauer”, denken sie noch immer, als sie mit diversen Tieren und einigem Mobiliar auf einer kleinen Bahnsta­tion weit im Westen stehen. “Urad” ist auf dem Bahnhofs­schild zu lesen. Eigent­lich wollten sie nach “Rzepin” fahren. Urad oder Rzepin. Es ist ihnen gleich, und die örtliche Bürokratie nimmt es dieser Tage nicht sehr genau. Sie bekommen ein kleines Haus zugewiesen. Das Überga­be­pro­to­koll lautet:

Regis­trierte Habse­lig­keiten: Bettwä­sche, Geschirr, ein Tisch, zwei Betten, ein Schrank, zehn Stühle.

Lebendes Inventar: Eine Kuh, ein Kalb, zwei Ferkel, sieben Hühner.

Übergeben wird: ein Haus, 0,3 Hektar Land, ein Schwei­ne­stall, eine Scheune, ein Brunnen, eine Dresch­ma­schine (kaputt).

“Das alte Land der Piasten kehrt zum Mutter­land zurück”, steht darunter.

“Zofia war das, was man eine Schönheit nannte”, sagt Kazimiera Kapica nicht ohne Stolz. Kazimiera war das erste polnische Kind, das im Dorf zur Welt gekommen ist. Heute ist sie selbst eine zierliche ältere Dame mit einer großen Brille aus den siebziger Jahren. “Da ist Mutti 30 Jahre alt” - Kazimiera deutet auf ein altes Foto ihrer Eltern: “Pechschwarzes Haar, blasses Gesicht, das Kleid hat ihre Schnei­derin genäht. Und Stanislaw - Feuer­roter Haarschopf, und dieser Schnurr­bart, der an den Enden gezwir­belt ist - in Barano­wicze ist das in dieser Zeit très chic.” In Urad wirkt es deplat­ziert. 

Zofia und Stanislaw hassen Urad - das hört Kazimiera in ihren Kinder­tagen mindes­tens drei Mal am Tag. Zofia hasst es, noch bevor sie alle unbefes­tigten Straßen des Dorfes gesehen hat. Dieses Goldgrä­ber­nest. Diese westliche Provinz, in der Vertrie­bene aus allen östlichen Teilen Polens, Hasar­deure, Glücks­ritter und arme Leute mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zusammen kommen. Alle angezogen von der Werbe­trommel der Regierung, die die neuen Gebiete besiedeln will und sie wie ein Gelobtes Land anpreist. Viele von ihnen besitzen nichts außer leichtem Gepäck. Sie finden Arbeit bei der Firma “Hen”, die der Gemeinde beschä­digte Häuser abkauft, die Abriss­ar­beiten übernimmt und die Steine verhökert. Weil dies ein gutes Geschäft ist und die Gemeinde bettelarm ist, werden in Urad ein paar Gebäude mehr abgerissen als unbedingt nötig gewesen wäre. Täglich sacken Häuser in sich zusammen, es poltert und staubt, und die Tagelöhner sammeln die Ziegel auf. Die Steine - das werden die Urader nicht müde, zu erzählen - würden in Warschau beim Wieder­aufbau gebraucht. Mit der Zeit wirkt die Bebauung in Urad seltsam licht.

Kapicas schieben einige ihrer Koffer einfach unter das Bett, ohne sie jemals anzurühren. Stanislaw repariert die kaputten Fenster­rahmen nur notdürftig, mit Nägeln. So etwas hätte er als Zimmer­mann unter anderen Umständen niemals getan. Zofia Kapica geht, um ihrer Verach­tung angemes­senen Ausdruck zu verleihen, nur aus dem Haus, wenn es unbedingt nötig ist. An den Grenz­fluss geht sie schon gar nicht. Die Oder friert winters zu, im Sommer bringt sie die Mücken. Mehr nicht.

Den Sozia­lismus verwirk­li­chen

Inzwi­schen leben die Aurither auf der deutschen Seite ruhig auf ihren Neusied­ler­höfen. Man hat ähnliche Erinne­rungen, spricht den gleichen schle­si­schen Dialekt, selbst die Höfe ähneln sich. Ein Neusied­lerhof wird stets nach ein und demselben Bauplan gebaut. Eine Haushälfte ist Wohn- und Schlaf­stube, die andere der Stall. Die Höfe stehen, sauber aufge­reiht zu beiden Seiten der Dorfstraße. Ein Konsum­ge­schäft verkauft Brot, Weißkraut und Brause­pulver. Im “Tanzsaal”, den die jungen Männer aus den Steinen gebaut haben, die das “Nationale Aufbau­werk” eigent­lich für den Bau einer Fried­hofs­mauer bereit­ge­stellt hat, feiert der Angler­verein von Zeit zu Zeit Angler­bälle. Sonst geschieht nicht viel.

Im Frühjahr 1960 kündigt sich die moderne sozia­lis­ti­sche Welt in Aurith an. Das Felder­be­stellen soll in eine Landwirt­schaft­liche Produk­ti­ons­ge­mein­schaft übergehen - in eine so genannte LPG. Die Aurither sind ausge­spro­chen wenig begeis­tert von dieser Idee. Die meisten von ihnen haben, nachdem ihnen einmal alles entglitten war und sie alles verloren hatten, ein starkes Bedürfnis entwi­ckelt, ihre Sache selbst in der Hand zu behalten. Und “Landwirt­schaft­liche Produk­ti­ons­ge­mein­schaft” klingt nicht so, als sei man sein eigener Herr. So erlangt Aurith als Trutzburg gegen die Indus­tria­li­sie­rung der Landwirt­schaft regio­nalen Bekannt­heits­grad. Während alle anderen Orte im Landkreis diesen Schritt längst vollzogen haben, weigert sich das 50-Seelendorf bis in die siebziger Jahre hinein, im sozia­lis­ti­schen Großbe­trieb aufzu­gehen. Schließ­lich sagt Heinz Thurian, der mittler­weile ein angese­hener Neubauer ist: “Ich glaube, es geht nicht länger. Wir müssen überlegen, was wir tun.” Er organi­siert eine geheime Wahl im Saal. “Wir geben auf”, kommt heraus.

Am anderen Ufer hadert derweilen auch Zofia Kapica mit der anste­henden Einfüh­rung einer Agrar­ge­nos­sen­schaft. Zofia hat ein aufbrau­sendes Tempe­ra­ment. “Ich habe den Krieg und die Bolsche­wiken überlebt” tobt sie, und Stanislaw - der ruhende Pol in ihrer Ehe - zieht es vor, zu schweigen. “Ich sitze in Urad, um der Kolchose zu entgehen und lasse mir gar nichts vorschreiben. Ich will eine selbst­stän­dige Bäuerin sein!” Zofias Meinung nach schuftet man in der Genos­sen­schaft wie ein Sträfling - und bekomme am Ende vom Ertrag nichts ab. Die beiden boykot­tieren die ungeliebte sozia­lis­ti­sche Errun­gen­schaft - und werden zur Strafe dazu verdon­nert, Borke von gefällten Stämmen zu schälen.

Wie Zofia prophe­zeit hatte, ist die Urader Genos­sen­schaft alles andere als ein Erfolgs­mo­dell. Zu viele Bauern misstrauen ihr. Sie haben schlechte Erfah­rungen mit sowje­ti­schen Ideen und lieben es, nach eigenem Gutdünken zu wirtschaften. So wird die Genos­sen­schaft abgeschafft, bevor sie noch wirklich in Gang gekommen wäre. Die Urader zerlegen das Genos­sen­schafts­büro, verkaufen Eisen­träger und sämtliche Dachziegel und vertrinken den Erlös in einer Nacht. Sie singen bis es dämmert und die ersten nach Hause torkeln.

Es ist selten, dass die Urader sich so einig sind. Die Siedler im Dorf sind Bergbauern aus den Karpaten, frühere Großbauern aus der heutigen Ukraine und Belarus, ehemalige Häftlinge aus Lagern in Sibirien. Bei Festen im Feuer­wehr­haus geraten die Familien in Streit und prügeln sich. Nur bei der Heuernte helfen sie einander, weil die Arbeit sonst nicht zu bewäl­tigen ist, und als es die ersten Fernseh­ap­pa­rate gibt, sehen sie gemeinsam fern.

Über den Fluss fahren

Während an den beiden Ufern des Flusses mit unter­schied­li­chem Erfolg der Sozia­lismus verwirk­licht wird, fließt die Oder mit ihren Strudeln und Strömungen still und gemäch­lich wie eh und je. Wenn sie tief steht, riecht es nach Schlamm. Wenn sich das Hochwasser ankündigt, kriechen die Schnecken die Bäume herauf. Die Fährstege liegen verlassen da, und fast scheint es, als hätte die eine Seite für immer vergessen, dass es eine andere Seite je gegeben hat.

Bis eines Nachts ein Boot durch den Fluss gleitet, die Ruder tauchen ganz leise ins dunkle Nass. Die Stelle ist günstig, weil der Fluss sich hier windet und ungebe­tene Beobachter nicht alles überbli­cken können. In der folgenden Nacht fährt das nächste Boot. Die Boote haben kein Licht. Sie fahren Waren, Schnaps und Zigaretten und manchmal Fahrgäste aus östlichen Ländern ans Aurither Ufer. 

In Urad hat sich völlig unver­hofft die ganze kleine Welt verändert, deshalb rudert Leszek Barto­szewski*, der kräftige Arme hat, nun bei Dunkel­heit über die Oder. Immer hat Leszeks Mutter auf die Kommu­nisten geschimpft, die Schuld daran waren, dass man nichts kaufen konnte. Dann haben Mutters Tiraden mit einem mal aufgehört - und seither hat sie die Kommu­nisten nie wieder erwähnt. Statt­dessen sprachen sie darüber, dass sich die Gänse­zucht nicht mehr lohnte, weil die staat­li­chen Abnah­me­stellen, die immer einen zuver­läs­sigen Preis für das Federvieh zahlten, geschlossen hatten. Ebenso ist es nun mit der Milch, dem Fleisch und den Eiern. Die Barto­szew­skis schafften die Gänse ab, und etwas später die Schweine. Jetzt leben sie von der Ausgleichs­rente, die seine Eltern erhalten haben, als sie einen Teil ihres Landes an den Staat abtraten, Diese Rente wird noch immer bezahlt, sie beträgt monatlich 300 Zloty.

Leszek besorgt ein stabiles Schlauch­boot. Dann trainiert er auf einem See. Lädt das Boot mit Sandsä­cken voll und rudert so schnell er kann. Das Übersetzen muss rasch gehen. Sie nutzen die Stunde des Schicht­wech­sels beim Grenz­schutz. Leszek taucht das Ruder ein. In der ersten Zeit fährt er Wodka und Zigaretten. Alle tun es. Tomasz tut es, Radek tut es, und Adam tut es auch. Er zieht die Ruder auf sich zu. Atmet. Es ist kühl auf dem Fluss. Es riecht nach Wasser. Im Boot sitzen zwei Männer und eine Frau, ihre Gesichter verschwimmen im Dunkeln. Die Zigaretten und der Schnaps lohnen bald nicht mehr. Zu wenig Gewinn. Tomasz, Radek und Adam haben aufgehört. Leszek macht weiter - Leszek verdient mit dem Fahren keinen Kasten Bier für den Feier­abend, sondern das Geld für die Familie. Er schnauft. In der Mitte des Flusses ist die Kraft des Wassers am stärksten, Leszek arbeitet gegen die Strömung an. Er fährt jetzt nur noch Menschen. Kasachen und Afghanen. 1.000 Zloty bekommt er pro Fahrt. Es ist “leicht verdientes Geld”, wie man so sagt. Leszek zieht das Ruder heran, er schwitzt. Ob er Angst hat? Ja. Es ist eine routi­nierte Angst. Keine, die sich löst, wenn es vorüber ist, und einer kleinen Freude weicht, über einen kleinen Sieg. Die Angst hockt irgendwo, wie ein kleiner Zeck, verkro­chen, lauernd. Es ist mehr eine Ahnung der Angst, die plötzlich ganz groß wäre, wenn wirklich die Hunde bellten, und man wüsste, dass sie gleich da sind. Da gibt es den Kollegen mit der zerbis­senen Hand. Aber jetzt, in diesem Moment ist es still, so dass man einen auflie­genden Vogel hört, den man am Tag nicht sehen würde. Es ist, als würde Leszek das Grau in Grau der Uferbö­schung mit dem nächsten Ruder­schlag ein Stück näher an sich heran­ziehen. Leszek horcht. Er kennt das Ufer blind. Jeden Stein. Jede Sandbank. Wie ein Nachttier ist er. Er sieht nicht. Er fühlt und riecht und hört.

Er weiß nicht, dass die Aurither, die nah am Deich wohnen, die Nummer des Grenz­schutzes in ihren Handys gespei­chert haben.

Silkes Traum in Grün

In Aurith kündigt sich das neue Zeitalter an, als der Schichtbus nicht mehr fährt. Der Schichtbus hat alle Bauern zur LPG gebracht. Die LPG hat man zwar nicht geliebt, doch sie war immerhin ein Garant dafür, dass die Dinge ihren Platz haben und der Weg zur Arbeit die Dorfstraße entlang durch die Niederung führte, bis zur “Rinder­pro­duk­tion” im benach­barten Wiesenau. Jetzt ist der Bus einge­stellt, und die ersten sind arbeitslos. Die LPG wird zwar nicht geschlossen, doch sie wird moder­ni­siert. Es wird entlassen. Früher gab es das Wort “arbeitslos” nicht. Nun ist man arbeits­loser Dispatcher, arbeits­loser Trakto­rist, arbeits­loser Fachar­beiter Tierpro­duk­tion.

Silke Thurian ist arbeits­lose Wurst­ver­käu­ferin. Sie hat ihren Beruf nie mit Leiden­schaft ausgeübt, doch sie ist eine vitale Frau, und nun langweilt sie sich. Sie lebt direkt hinter dem Deich, und wenn sie viel Zeit hat und am Küchen­fenster sitzt, kann sie den Spazier­gän­gern auf dem Deichweg beim Prome­nieren zusehen. Seit der Wende sind es mehr geworden. Sie nennen die Weiden am Ufer jetzt “Fluss­land­schaft” und “Natur­schutz­ge­biet” und sausen mit ihren Inline­skates über den Asphalt. Rechts die Oder, links die Auen.

“Wenn du in einem Laden Wurst verkaufen kannst, kannst du auch aus unserer Garage heraus Wurst verkaufen”, sagt Schwie­ger­papa Heinz Thurian eines Sonntags, als die Touristen die schöne Natur - und die Thurians die Touristen betrachten. Sie räumen die Garage aus, stellen einen Tisch und eine Kochplatte hinein und besorgen Wurst und Schrippen. Auf ein Schild schreiben sie: “Bockwürste, Wiener­würste, Knacker”. Dann stellt sich Silke hinter den Tisch und verkauft.

“Eine Bockwurst bitte.” “Bitte.” Silke ist eine große, füllige Frau Ende 30 mit rötlich gefärbtem Haar, die Fremde mit einem geraden Blick ansieht.

Pling. Geldstücke fallen in Silkes Kasse. Sie fingert nach Wechsel­geld. Die Bockwürste schwimmen in einem großen Topf, rasch werden es weniger. Es läuft gut. Die Kunden kommen aus Eisen­hüt­ten­stadt, aus Frankfurt und manche sogar aus Berlin. Jetzt fehlt nur noch eine Geneh­mi­gung vom Amt.

Beim Gewer­beamt heißt es, der Imbiss werde nur genehmigt, wenn der Plan bestünde, ein Restau­rant zu eröffnen. Silke stellt sich ein Restau­rant vor. Sie sieht sich Gäste bedienen, lächeln. Sie wäre die Wirtin. Doch sie hat Zweifel, ob es gehen kann.

“Geht alles”, sagt Heinz Thurian. “Wenn du Würste aus unserer Garage raus verkaufen kannst, kannst du auch ein Gasthaus führen.” Der Schwie­ger­vater, der erlebt hat, dass man aus allem etwas machen kann, schlägt vor: “Wir haben doch den Hühner­stall, wo jetzt die Garten­ge­räte drinstehen. Den baut ihr aus. Das wird das Restau­rant.” Silkes Mann Olaf ist Maurer, und Silke ist aus demselben Holz gemacht wie der alte Thurian. Auch sie glaubt, dass alles irgendwie geht. Aber erstmal rechnet sie. Es geht nicht, kommt heraus. Es fehlt am Geld.

Silke geht zur Bank. Sie erklärt, dass sie arbeits­lose Wurst­ver­käu­ferin sei, jetzt Wurst aus einer Garage heraus verkauft, dass sie ein Restau­rant aus einem Hühner­stall bauen möchte, dass ihr Mann Maurer sei, und dass sie alles genau ausge­rechnet hat - sie benötige nur noch einen geringen Kredit. Sie könne gar kein Restau­rant führen, heißt es bei der ersten Bank. Silke wird wütend und sagt: “Das werden wir sehen.” “Der Kredit ist zu niedrig”, heißt es bei der nächsten Bank. “Ja, wie”, fragt Silke, “Wenn ich einen Kredit über eine Million beantragen würde, den würde ich wohl kriegen?” - “Mit Handkuss”, sagt die Dame hinter dem Schreib­tisch süffisant. Silke lernt etwas Wichtiges, aber Ungutes über die Welt und geht. Sie fühlt sich klein und hilflos und schlecht behandelt. Sie möchte nicht, dass ein Plan, der für Silke groß, in den Augen der Bank aber zu klein ist, einfach vom Tisch gefegt werden kann. Sie will es ihnen zeigen.

Die ganze Familie wirft jetzt ihr Erspartes zusammen, und sie bauen gemeinsam den Hühner­stall aus. Olaf ist die Woche über auf Montage und am Wochen­ende mauert er. Silke packt mit an und besorgt Bauma­te­rial. Es dauert sehr lange, weil sie immer nur bauen können, wenn Geld vorhanden ist. Aber schließ­lich ist es soweit. Sie streichen das Haus grün und nennen es “Bauern­stüb­chen”.

Olaf kleidet die Wände mit Holz aus, so dass es aussieht wie in einer finni­schen Sauna. Es ist gemütlich. Von der Decke herab hängen kleine Stoff­hexen. Wenn das Wetter gut ist, braten sie Berge von Schnit­zeln, mit vielen Zwiebeln, Champi­gnons und Rahm. Olaf steht in der Küche. Silke rennt. Mit strammem Max, Ragout Fin und frisch gezapftem Bier. Die Gäste sitzen im Grünen. Herrlich, sagen sie. Die Weiden, die da halb im Wasser stehen. Wo die Biber nagen und die Rebhühner brüten. Es ist ein Idyll. Eins um das Thurians kämpfen würden, wenn es nötig wäre. Der Grenz­fluss liegt für sie hinter dem Deich. Es gibt keine Brücke - und das ist gut so. Sie würden das Knattern von Mopeds fürchten und die Preise von Urader Gastwirten.

Alicjas Traum in Grün

Im Halbli­ter­glas steigt Bierschaum auf. Der Zapfhahn tropft ab. Zwei Bier, bitte. Alicja Knebel, eine Frau mit blondiertem Haar und erhitztem Gesicht reicht zwei Gläser über die Theke und zwei Teller hinterher. Zwei Bigos - Sauer­kraut mit Speck und Fleisch vermischt.

Im Gastraum der “Bar unterm Birnbaum” in Urad flimmern Fische grün im Aquarium. Männer in Arbeits­hosen, in T-Shirts und Jeans­ja­cken essen und reden. Das Bier ist gut. Der Bigos ist gut. Die Männer reden gegen den Lärm einer Verfol­gungs­jagd im Fernsehen an. Autos krachen. Teure Autos - Schrott. Die Sehnsucht der Männer: Ferraris schrotten, jederzeit neue haben können. Ihre zweite Sehnsucht: Bier.

Alicjas Sehnsucht ist ein Hotel. Es wird “Hotel Alicja” heißen. Irgend­wann einmal wird es soweit sein, sie wird das nötige Geld zusam­men­haben und inves­tieren können. Sie wird hinter einer Rezeption stehen, die Frisur wird immer sitzen, die Finger­nägel werden gepflegt und lackiert sein, vielleicht in blassrot. Sie legt einen Hundert-Zloty-Schein sorgfältig ins Geldfach der Kasse. Pling.

Pling macht Alicjas Kasse. Zwei Bier, zwei Bigos, zwölf Zloty. Die Geldstücke fallen ins Fach. Alicja rechnet. Das Leben ist: Bier und Bigos einkaufen. Bier und Bigos verkaufen. Zloty ausgeben, Zloty in die Kasse füllen. Es ist wie atmen. Ein und aus. Und langsam wächst etwas. Am Anfang war eine Bretter­bude, dann ein Wellblech­con­tainer, jetzt ist es ein Restau­rant aus Stein. Es ist grün gestri­chen. Nicht mattgrün, sondern sattgrün. Grün ist die Farbe der Hoffnung. Es liegt direkt an der Fernstraße, die nach Slubice und zur Grenze führt. Die Autos fahren schnell, die Lastwagen sind riesig und haben mehrere Hänger.

“Sebastian!” ruft Alicja. Sebastian ist Alicjas Sohn, er ist 25. Er ist fast immer da, ein guter Junge. Er hat schon mit zwölf Jahren Würste über einen selbst­ge­bauten Tresen verkauft. Damals musste er auf einer Kiste stehen, damit er an alles herankam und souverän Geld wechseln konnte. Sebastian kommt. Er war nur eben an der Tankstelle hinter dem Haus, die die Knebels seit einem Jahr zusätz­lich betreiben. Sebastian wollte immer etwas mit Autos machen. Was man machen will, muss man irgendwie ins Famili­en­biznes integrieren.

Alicja erzählt: “Wir hatten kein Geld, nichts. Das einzige Kapital, das ich hatte, war ein Arbeits­un­fall. Kein Witz. Ich habe in Frankfurt an der Oder in einer Bierab­füll­fa­brik gearbeitet. Dann: Hand in die Maschine gebracht, Sehnen gerissen, aus. Ich konnte lange nicht mehr arbeiten. Es gab dafür eine Abfindung, nicht viel, aber die habe ich gespart. Es hat für einen Container gereicht.” Der Container: Ein Baustein zum Glück.

Sebastian unter­bricht: “Langsam Mama, du bist immer so schnell. Am Anfang hatten wir eine Wiese mit Schafen und eine alte Scheune. Das alles lag an dieser großen Straße, wo die vielen Trucker fahren.” Ein Freund, Jan Kapica, der Lastwagen fährt, hatte die Idee: Ein Fernfah­rer­im­biss. Eine Holzbude, wo es Kleinig­keiten zu essen gibt. Das sieht man jetzt immer öfter, und das läuft bestimmt gut.

Die Familie Knebel rodet ihr Grund­stück von beinhohem Unkraut, schlachtet alle Schafe und trägt die Backstein­scheune ab. Dann bauen sie die Bretter­bude, alle zusammen. Sie haben jetzt ein hübsches Plätzchen, wie Alicja sagt. Eine Sitzgruppe aus Baumstümpfen, Sonnen­schirme, gefühl­volle Musik aus einem Kasset­ten­re­korder.

Sie verkaufen 40 Kilo Würstchen täglich. “Das Geschäft lief super”, sagt Alicja. Schmuggel und Billig­käufe liefen auf Hochtouren. “Man war unterwegs und hat Geld verdient.” Alicja beschließt, dass ihre Kinder jetzt keine Klamotten, Video und so weiter brauchen, alles, was andere Familien nach ´89 anschaffen. Alles, was sie verdienen, wird für später gespart. Alicja will ein Fernfah­r­er­re­stau­rant.

Im Winter 1992 bauen Knebels das erste Mal an: einen Wellblech­ver­schlag um den Imbiss, so dass eine Art Gastraum entsteht. Im nächsten Sommer inves­tiert Alicja die Abfindung für ihre kaputte Hand in einen Container, den sie an das Vorhan­dene anbauen. Alicja gibt immer nur Geld aus, wenn welches da ist. Niemals würde sie einen Kredit aufnehmen, sie hätte Angst, die Sache liefe schief. Schließ­lich nehmen Knebels die Steine, aus denen die alte Scheune bestanden hat, und mauern sie um das Ganze herum. Jetzt ist es da, das Restau­rant. Sie nennen es “Bar unterm Birnbaum”.

“Mein Sohn hat goldene Hände”, sagt Alicja und meint, dass Sebastian alles kann - Dielen verlegen, eine Heizung zum Laufen bringen. Er kann auch Autos lackieren. Sebastian sagt über seine Mutter, dass sie in der Gegenwart immer sehr sparsam sei, weil sie an die Zukunft denke. Er selbst denkt so gut wie nie an die Zukunft, sondern immer an die Gegenwart. Die Gegenwart ist das Famili­en­biznes. Die “Bar unterm Birnbaum” hat nonstop geöffnet, 24 Stunden Bier und Bigos, die Fische flimmern grün. Pling macht die Kasse.

“Ich stelle mir die Zukunft so vor”, sagt Alicja, “wir bauen immer weiter aus, und irgend­wann haben wir ein Hotel.” Zuletzt haben sie einen Spring­brunnen gekauft und ihn in den Garten gestellt, und dann haben sie in den leuchtend grünen Anstrich inves­tiert. “Das ist hübscher als gelb oder weiß, und man sieht die ‚Bar unterm Birnbaum‘ jetzt schon von weitem.”

Durch den Strom schwimmen

Über Auriths Häusern mit ihren gepflegten Vorgärten senkt sich der Abend. Es ist ein Sonntag im Herbst, und die Dorfbe­wohner sind mit sich allein. In Silke Thurians Bauern­stüb­chen sitzt als einziger Gast ein verfro­rener Grenz­po­li­zist, der einen Tee bestellt hat. Draußen ist es still und novem­ber­feucht, wie es nur in Ostbran­den­burg auf dem Land und am Ufer der Oder möglich ist. Die Autos auf der Dorfstraße sehen aus wie für immer dort abgestellt. Hinter Fenstern flackern Fernseh­ge­räte.

Nur Isabel, Silke Thurians Tochter, ist draußen. Sie steht auf dem Deich. Drüben ist der Urader Fährsteg zu sehen. Er ist leer.

Isabel hat sich breit­schlagen lassen zu zeigen, wo sie damals durch den Fluss geschwommen ist. “Dahinten war es”, sagt sie. “Man muss schräg schwimmen, wegen der Strömung, die treibt einen ab. Immer. Auch wenn man ein guter Schwimmer ist.” Dann schweigt sie wieder. Man kann ihr nicht nachsagen, dass sie geschwätzig sei. In ihrem langen schwarzen Mantel und den Turnschuhen mit Plateau­sohlen sieht sie aus, als habe sie sich für etwas anderes, Aufre­gen­deres zurecht gemacht, als um hier am Aurither Deich auf und ab zu gehen. Aber Isabel schüttelt den Kopf. Sie habe nichts vor. Hier passiert nicht so viel. Abends trifft sich die Dorfju­gend in einem alten Bauwagen und sie trinken Bier. Im Sommer, wenn es warm ist, sitzen sie auf dem Deich, essen Eis und baden.

Es war eines Tages im Sommer hier auf dem Deich, als Isabel Bogdan kennen lernte. Er stieg aus dem Wasser und hatte nur Badehosen an. Bogdan kam aus Polen. Er hatte noch einen Freund dabei: Daniel. Die beiden lachten, als hätten sie ihnen einen Streich gespielt. Und die Aurither lachten mit. Dann saßen sie gemeinsam im Gras und ließen sich in der Sonne wärmen. Bogdan und Daniel hatten eine Mutprobe abgelegt - einmal durch den Fluss zu schwimmen - und zurück.

Bogdan und Daniel kamen nun öfter. Bogdan besuchte Isabel und Daniel ihre Freundin Caroline. Die Mädchen koket­tierten mit den komischen Jungs, die trotz aller Gefahren von Strudeln oder Grenz­schutz zu ihnen kamen. “Schon gut irgendwie”, fanden sie. Mehr war nicht.

Irgend­wann überre­deten Caroline und Isabel ihre Eltern, mit ihnen einmal nach Urad zu fahren. Ein Wochen­end­aus­flug - das wäre doch eine nette Idee. Die Eltern gaben nach, und so kam es, dass Caroline und Isabel eines Nachmit­tags im polni­schen Dorf auf der Oderstraße standen und herum­al­berten und warteten, ob Bogdan und Daniel zufällig des Weges kämen. Sie kamen tatsäch­lich. Dann spielten sie in einem Feuer­wehr­schuppen Tisch­tennis und Isabel fragte Bogdan, ob er ihr ein Foto von sich schenken könne. Bogdan gab ihr eins. Isabel hängte es in einem herzför­migen Rahmen in ihrem Zimmer auf.

Dann wartete sie, dass Bogdan wieder einmal Mut beweisen würde und Caroline und sie die umwor­benen Mädchen wären. Aber Bogdan kam nicht mehr.

Um die Zeit abzukürzen, beschlossen die Mädchen, ihren Mut zu erproben. Sie schwammen und kamen im Badeanzug am polni­schen Ufer an. Die Mütter erfuhren es, irgendwie. “Was?” fragte Isabels Mutter entsetzt. “Du hast was getan?” “Das Wasser war ganz niedrig, Mama”, beschwich­tigte die Tochter. Sie will nicht mehr gern über die Sache reden.

Sie wendet sich ab vom Deich. Es genügt, die Geschichte ist erzählt, sie muss nicht mehr diesen Fährsteg anstarren, der vom polni­schen Ufer in Richtung Deutsch­land ragt. Das Foto in dem Herzrahmen hat sie irgend­wann wieder abgenommen, sagt sie, schon im Gehen begriffen. Ihre Mutter wartet mit dem Abendbrot auf sie. Nach dem Essen wird sie noch im Bauwagen vorbei­schauen, vielleicht etwas trinken, ein bisschen quatschen. Es ist wie immer in Aurith.

“Wenn ich die Schule fertig habe, gehe ich weg von hier”, sagt Isabel. “Ich werde Friseuse. In Frankfurt/Oder. Vielleicht auch in Eisen­hüt­ten­stadt.”

Auch in Urad wird es dämmrig. Aus den Schorn­steinen kräuselt sich Rauch, es riecht nach Holzfeuer und modrigem Laub. Der November liegt wie ein Schleier aus feinen Tröpfchen über dem Dorf und hüllt die Häuser ein. Es ist die gleiche Feuch­tig­keit, die über Auriths Häusern liegt.

Wer auf der Straße geht, tut dies mit eiligen Schritten. Niemand wartet an der Bushal­te­stelle, niemand will vor dem Laden sitzen und Bier trinken, niemanden zieht es an die Oder, wo der Nebel über die Sandbänke kriecht.

Nur Bogdan und Daniel stehen auf der Fährbuhne, breit­beinig, Bogdan hat sein Mofa dabei. Er hält mit einer Hand den Lenker, mit der anderen zeigt er hinüber zum deutschen Fährsteg. “Da drüben waren wir”, sagt er. Seine Stimme klingt rau. Er ist 16, trägt das Haar kurzge­schoren und feixt aus wachen braunen Augen. Er knufft Daniel in die Seite: “Mach weiter. Du kannst besser deutsch als ich.” Daniel schiebt die Hände tiefer in die Taschen und sagt nichts, er sagt fast nie etwas, wenn Fremde dabei sind. Er blickt übers Wasser und schweigt.

“Angst vor dem Grenz­schutz? Quatsch”, sagt Bogdan. Gar nicht. Er erzählt von Isabel und Caroline, beiläufig. Als wäre es nichts, durch den Fluss zu schwimmen. Es war ja Sommer, und das Wasser sei niedrig gewesen. Bogdan tritt das Mofa an, es säuft ab, er versucht es noch einmal. “Einmal kam dann das BGS-Auto”, erzählt er, während der kleine Mofamotor immer wieder aufheult und verstummt. “Jemand hat wie verrückt etwas durch den Lautspre­cher gebrüllt, wir verstanden nicht, was. Dann sind wir abgehauen. Geflüchtet.” Aber das habe sie natürlich gerade gereizt. Als ob der deutsche Grenz­schutz ihnen was zu sagen habe. Bogdan lacht und Daniel wiehert, als habe sein Freund einen genialen Witz erzählt.

“Eines Tages”, erzählt Bogdan weiter, “standen Isabel und Caroline in Urad auf der Oderstraße.” Einfach so. Die Mädchen kicherten, und Bogdan wusste nicht recht, ob er das gut finden sollte. Dann spielten sie Tisch­tennis und Isabel schenkte Bogdan ein Foto von sich. Bogdan deutet über den Fluss. Am anderen Ufer zeichnen sich die Umrisse eines Hauses ab. Ein kleiner Giebel, verschwommen im Dunst. Unter dem Dach hat Isabel ihr Zimmer, mit einem zerwühlten Bett, mit Starpla­katen und Jeans­hosen, die sie in eine Ecke gefeuert hat. Bogdan hat sie dort nie besucht.

Isabels Foto liegt irgendwo bei ihm zu Hause, in einer Schublade - oder in einem Pappkarton. Vielleicht würde er es finden, wenn er suchen würde.

Bogdan hat sein Mofa jetzt anbekommen. Daniel setzt sich hinter ihn und sie knattern los. Sie fahren zum Feuer­wehr­schuppen, wo sich die Urader Jungs fast jeden Abend treffen, um Bier zu trinken und Karten zu spielen, um Geld.

Wenn Bogdan mit der Schule fertig ist, das weiß er schon, geht er aus Urad weg. Er will Biznesmen werden. In Amerika.

* Name geändert

Aus den gesam­melten Geschichten aus Aurith und Urad ist ein Buch entstanden:

Tina Veihelmann und anschlaege.de: “Aurith-Urad, zwei Dörfer an der Oder”, Kultur­forum Östliches Europa, 248 S., mit Fotos, 9,80

Diese Reportage erschien in „der Freitag“ in der Beilage „Robinson“, am 22. Dezember 2006