Ein Adieu an den Flughafen Tempelhof in Berlin
Der Imbiss im Flughafen Tempelhof heißt „Air Snack“. Es ist der einzige Imbiss hier. „Air Snack“ ist in gotischen Lettern geschrieben. Es gibt Berliner Kartoffel- und Erbsensuppe, Wiener Würstchen und Bockwürste. Keine Sushi, kein Fingerfood, trotz Hauptstadt. „Wie lange haste noch?“ fragt ein Graumelierter das Mädchen hinter den Auslagen. „Bald Feierabend“, sagt sie und schiebt ihm seinen Pott Kaffee durch die Luke.
Es ist ruhig hier. Keine Lautsprecheransagen „Last Call for Passenger König-Schulte to Los Angeles“. Keiner fliegt von hier aus nach Los Angeles. Einer im Heavy-Metall-T-Shirt erzählt, er komme gerade aus Basel. Abgesehen davon könnte der Steward oder die Stewardess einen Fluggast, falls er wirklich abhanden kommen sollte, ohne große Umstände persönlich suchen gehen. Vor „Air Snack“ sitzen acht Reisende auf Barhockern an hohen Tischen. In der Halle warten weitere vereinzelte Gäste in Sitzschalen. Sie unterhalten sich gedämpft, weil zu wenige Menschen im Raum sind, als dass man ihre Anwesenheit ignorieren könnte. Der Herr gegenüber könnte sich erinnern, an die beiden Mittdreißiger zum Beispiel, er brünett und sie mittelblond mit ihrem Beziehungsproblem. Sonntags am späten Nachmittag auf dem Flughafen Tempelhof. Man hört Zeitungen rascheln. Und man könnte sich einbilden, selbst die Anzeigetafeln beim Umklappen klackern zu hören. Der Flug nach Saarbrücken ist gerade weg. Der nächste Zug - pardon, der nächste Flug - geht nach Kopenhagen.
„Der Flughafen Tempelhof ist das größte Gebäude Europas“, sagt Dieter Nickel, der seit 1966 hier beschäftigt und der 1938 geboren ist. Im gleichen Jahr, in dem der Flughafen fertig wurde. Heute ist er Rentner und Überzeugungstäter, wie er sich nennt. Er führt Fremde auf dem Flughafen herum, der bald schließen soll. Schön findet er das nicht, wenn sein Flughafen die Pforten schließt. „Das größte Gebäude Europas, nicht in der Länge, Breite, Höhe oder Tiefe, sondern in der Gesamtbruttogeschossfläche“, wie er sagt. Die Bruttogeschossfläche beträgt 284.000 Quadratmeter. „Donnerwetter. Das ist ja eine Menge“, sage ich zu ihm. Wir sitzen bei „Air-Snack“ und das Mädchen, das bedient, bringt uns Kartoffelsuppe. „Die ist selber gemacht“, sagt Dieter Nickel und meint die Suppe. „Es sieht gar nicht so groß aus“, sage ich und meine die Flughafenhalle.“ Es liegt daran, dass die Nazi-Ehrenhalle abgehängt wurde, wird mir gesagt. War zu hoch. Sonst wäre die Halle ein Drittel höher und im oberen Drittel würden alberne Plastiken auf kleinen Sockeln stehen. „Du weißt schon, tausendjähriges Reich und so“, sagt Dieter Nickel. So jedenfalls, mit abgehängter Decke, ist die Halle angenehm schlicht. Sie strahlt eine nüchterne Strenge und Bescheidenheit aus, mit ihrem Marmor, der nicht glänzt. Und ihrer Stille. Es wirkt wie ein Provinzbahnhof, der ein wenig zu groß gebaut wurde, so wie Provinzbahnhöfe oft ein wenig zu groß gebaut sind. Sie haben einen speziellen Geruch an sich, solange sie nicht modernisiert werden. Und es hallt immer ein bisschen zu stark, wenn man geht. „Mich erinnert es an Provinz“, sage ich zu Dieter Nickel, auf die Gefahr hin, seinen Flughafen zu beleidigen. „Natürlich“, sagt er. „Das ist ein Dorfflughafen. Das darfst du ruhig schreiben. Aber überleg mal. Nicht jedes Dorf hat einen Flughafen. Schon gar nicht mit einem so großen Gebäude.“
„Moment mal“, sage ich. „Ich dachte Tempelhof soll geschlossen werden, weil es zu klein ist für das Dorf.“ Die Landebahn, die die US-Air-Force gebaut hat, ist so kurz, dass große Flugzeuge nicht starten und nicht landen dürfen. Erst hatte man eine Landebahn aus Stahlplatten, die schrecklich gerattert haben soll. Sie ging während der Luftbrücke kaputt. Später gab es eine Bahn aus Asphalt, aber zu kurz ist sie dennoch, weil man das Feld ja schlecht vergrößern kann, mitten in der Stadt. „Tempelhof ist klein - aber zentral“, hält Dieter Nickel dagegen. „Das hat viele Vorteile. Zum Beispiel für Geschäftsleute.“ Er ist nett. Trägt ein weißes T-Shirt und helle Blue Jeans. Um den Hals hat er ein blaues Schlüsselband. Als Kind hat er versucht, die Candybars des Piloten Gail Halvorsen zu fangen, aber ohne Erfolg. Später wurde er Leiter der Planungs- und Bauabteilung der US-Air-Force. Dann bei der Flughafengesellschaft Berlin. Er ist eine seltsame Kreuzung zwischen einem leutseligen Urberliner und einem American Guy. Manche Worte sagt er auf Deutsch und dann noch mal auf Englisch. Fremde duzt er mitunter, was nicht respektlos wirkt, sondern an das amerikanische „you“ erinnert. Beim Imbiss „Air Snack“ bekommt er Rabatt. „Überleg mal, wenn du eine neue Leber brauchst“, sagt er. „Das gibt es heute, dass man eine Leber künstlich herstellt. Sehr praktisch. Wenn du Alkoholvergiftung oder Gelbsucht hast und deine Leber dringend ausgewechselt werden muss.“ „Meine Leber?“ „Ja, deine Leber. Dann kann Tempelhof dir das Leben retten. Der Helikopter mit der Leber kann hier landen, mitten in der Stadt.“ Daran hatte ich nie gedacht. Ich fasse mir unwillkürlich mit der Hand in die Bauchgegend. Und überlege, ob uns das Mädchen von „Air Snack“ noch einen Kurzen verkauft. Bevor sie Feierabend macht.
Nachruf auf den Flughafen Tempelhof, erschienen in „der Freitag“ am 24. September 2004