Funktio­niert auch bei Sturm

Die Welt der Arbeit und des Konsums hat Sonneberg ausge­spuckt. Er pfeift drauf: „Den Kapita­lismus brauche ich nicht“, sagt er. „Der braucht mich ja schließ­lich auch nicht“.

Junge Dame, Sie brauchen einen neuen Fahrrad­schlauch“, sagt Volkmar Sonneberg*, ein hoch gewach­sener älterer Herr, Hosen­träger stramm über ein kariertes Hemd gespannt. Die junge Dame dürfte in ihren Siebzi­gern sein. Sie hat ihr Fahrrad mitge­bracht, das vorn einen Plattfuß hat. „Schauen Sie, ich suche den Schlauch persön­lich für Sie heraus“, sagt Sonneberg galant und reißt mit seinen großen Händen eine angegilbte Pappschachtel auf. „Wenn Sie den bei Netto aus dem Regal heraus­fum­meln müssten, würden Sie mögli­cher­weise den Falschen erwischen“, fügt er hinzu. Er hat der Dame das Rad abgenommen und zieht ihr mit ein paar Handgriffen den neuen Schlauch auf. Es ist Wochen­markt in Wolfen-Nord. Sonne­bergs Auslagen liegen in wüstem Durch­ein­ander auf einer Holzplatte aufgebart: Luftpumpen aus Metall, die den nächsten Weltkrieg überstehen würden, Rockschoner, Ventile, Lampen mit Dynam­o­be­trieb. Keines seiner Waren würde zu einem Mountain­bike passen. Es fragt auch nie jemand nach Ersatz­teilen für Mountain­bikes.

In Wolfen-Nord ist man 55 - im Schnitt. Wolfen-Nord - das ist ein Platten­bau­ge­biet, und Wolfen eine fast verges­sene Stadt in Sachsen-Anhalt. Früher war sie berühmt für ihre Filmfa­brik. Heute wächst Gras wo früher die Ferti­gungs­hallen standen. Wolfen-Nord wird von den Rändern her wegge­rissen, fast täglich ein Haus, dann wird der Schutt wegge­räumt. Die Alten rücken im Süden des Viertels zusammen, dort wo die Stadt noch intakt aussieht, die P2 matt in der Herbst­sonne leuchten und an Donners­tagen Riesen­büs­ten­halter in weiß und hautfarben oder Sonne­bergs Fahrrad­zu­behör zu haben sind.

Sonneberg ist erst knapp 60, ein junger Hüpfer also auf dem Wolfener Wochen­markt. Die Damen, die viel Zeit haben, besuchen ihn gern, denn er erzählt jedem, der es wissen möchte, weshalb er Netto und REAL haushoch überlegen ist, dass er als Bursche ohne Sattel auf Pferden reiten konnte oder was von den Dieben der neuen kapita­lis­ti­schen Ordnung zu halten ist. Sonneberg hält vom Kapita­lismus nichts. Den braucht er nicht, genauso wenig wie der Kapita­lismus ihn braucht. Vor der Wende war Sonneberg Klauen­be­schneider für Rinder bei einer LPG nahe bei Wolfen. Als der Kapita­lismus über sie kam, wurde er arbeitslos, seine Frau kaufte ein überflüs­siges Video­gerät, die Jugend machte in den Westen, und sein Nachbar, ein Fahrrad­händler, trank immer mehr. Sonneberg begann zu sabotieren. „Meine Frau sagt, wenn es nur Menschen wie mich gäbe, könnte der Kapita­lismus einpacken“, verrät er. Denn Sonneberg kauft kaum etwas ein. Keinen Schnick­schnack, Computer, den ganzen Quatsch. Nicht einmal Waren kauft er, denn er hat genug davon. Er besitzt eine Scheune voller Fahrrad­teile, die noch gut sind. Die hat er von seinem Nachbarn geerbt, dem, der nach der Wende das Saufen begann.

Die Waren werden so schnell nicht zur Neige gehen, denn der Nachbar hat Sonneberg einen riesigen Berg von ihnen vererbt. Im Sozia­lismus hatte er immer mehr bestellt, als er brauchte - denn meist kam ja nur ein Bruchteil seiner Bestel­lung bei ihm an. Ungefähr zu Wende­zeiten war einmal die ganze Lieferung gekommen. Der Nachbar bekam Platz­pro­bleme und begann etwa zur selben Zeit immer mehr Spiri­tuosen zu konsu­mieren. Sonneberg verstaute erst einen Teil der Waren in seiner Scheune und schließ­lich stapelte er dort die ganze Hinter­las­sen­schaft des Nachbarn, denn der machte seinen Laden dicht.

Dann ging Sonneberg mit seinen Fahrrad­teilen auf den Markt. Ein Geschäft sollte es eigent­lich gar nicht werden. Er wollte die Teile an den Mann bringen, es sollte ja nichts verkommen. Sonneberg verkaufte nur, solange der Vorrat reichte. Dennoch macht er Umsatz, hat sein Auskommen, für ihn und seine Frau genug, allemal. Er muss für die Banditen vom Finanzamt sogar eine Steuer­erklä­rung machen. Die älteren Herren und Damen kaufen nämlich tatsäch­lich lieber bei ihm als bei REAL - denn sie alle haben noch ihre alten Fahrräder, und zu denen passen Sonne­bergs Ersatz­teile. Vielleicht reicht ja der Vorrat noch, solange die Damen und Herren neue Rockschoner und Dynamos für ihr Fahrrad­licht benötigen.

An manchen Tagen bekommt Sonneberg, obwohl er ja eigent­lich nichts Neues anschafft, eine Lieferung. Dann kommt sein älterer Freund Hans Böttcher vorbei, der für seine 77 noch sehr gut aussieht, wie er sagt. Böttcher mag auch nicht, wenn etwas verkommt. Seit in Wolfen-Nord so viele Leute ausziehen, stehen unglaub­lich viele Dinge auf der Straße, die man noch verwenden kann. Vor den Abriss­häu­sern türmen sich Berge von Dingen. Böttcher rettet prakti­sche Dinge und schöne Dinge. Wäsche­trockner ebenso wie Bilder mit weinenden Mädchen und kleine Brocken­hexen, die man an die Wand hängen kann. Kürzlich hat er ein Metall­feu­er­zeug gefunden, auf dem in Englisch steht: „Auch bei Sturm verwendbar“. „Gut nicht?“, sagt er. Böttcher sammelt alles. Platz hat er genug. Frau und Kinder sind ausge­zogen, und die Wohnung gegenüber hat er gleich mit dazu. Seine Fundstücke verschenkt er auf dem Wochen­markt oder er bringt sie zum An- und Verkauf. Fahrräder und Fahrrad­teile bekommt Sonneberg.

An Wochen­enden fahren die beiden Freunde Hans Böttcher und Volkmar Sonneberg mit ihren Rädern über die Dörfer um Wolfen herum. So halten sie sich fit. Auf dem Land ist es wieder idylli­scher geworden, seit die Industrie nicht mehr da ist. Sie radeln auf ihren guten alten DDR-Rädern an still­ge­legten Feldern vorbei. Etwas Schnel­leres brauchen sie nicht. Wenn sich Hans eine Scherbe einge­zogen hat, zieht Volkmar ihm einen neuen Schlauch auf. Böttcher hat Stullen dabei und sein Sturm­feu­er­zeug, das auch bei Herbst­wind funktio­niert.