Woran Ostler und Westler sich noch immer erkennen
Meine Freundin Erika behauptet, sie könne Bürger aus dem Ostteil der Republik von Bürgern aus dem Westteil der Republik unterscheiden. Heute noch, ja wirklich. Nein, nicht weil jemand stark sächsisch spricht oder brandenburgisch oder gerade von seiner Kindheit bei den Jungpionieren erzählt. Auch wenn sie hochdeutsch reden, kann Erika ihre Landsleute erkennen. Auch wenn sie schweigen. Sie ist selbst aus dem Osten. „Ich habe da so ´nen Blick dafür“, sagt sie.
„Das ist Blödsinn“, sage ich. „Meine Ostfreunde behaupten das immer. Und es stimmt nie.“ Erika besteht darauf. Sie hätte es schon oft, sehr oft ausprobiert, und immer hätte sie am Ende recht.
Erika will mir beweisen, dass es wirklich funktioniert. Wir sind in den Treptower Park gefahren und haben uns auf eine Bank gesetzt. Beide ein Nogger mit Schoko in der Hand, taxieren wir die Leute auf der Uferpromenade. Ältere Damen mit hellgrauer Dauerwelle, Hundehalter, Radfahrer mit Helm, Liebespärchen. „Erika, es ist nicht schlimm, wenn es nicht klappt“, sage ich ihr. Aber sie hat bereits ihren Detektivblick aufgesetzt. „Der Mann da“, sagt sie. „Eindeutig. Osten.“ Sie deutet mit ihrem Nogger auf einen etwa 60-Jährigen, der gemächlich am Ufer entlang spaziert. „Die Tasche! Mein Vater hatte genauso eine Tasche. So eine Lederhandtasche für Herren. Das ist der Osten.“ „Mein Vater hatte auch so eine Tasche – und kommt aus Stuttgart“, wende ich ein. Aber Erika ist schon unterwegs.
„Und?“ - „Süddeutschland.“ Erika knabbert enttäuscht den Schokoladenguss von ihrem Eis. „Der Junge mit dem schwarzen Shirt und dem Piercing“, gebe ich ihr eine zweite Chance. „Das ist kein Ossi“, sagt Erika sicher. „Der kommt aus Kreuzberg.“ - „Kreuzberg“, bestätigt der Junge freundlich. - „Der da hinten mit dem Basecap.“ - „Auch kein Ossi, der kommt aus Köln.“ Der Basecapjunge stammt aus Bonn.
Die Ostler, erklärt mir Erika, erkennt man manchmal an der Kleidung. Wenn sie so Sachen tragen, die´s früher nur im Osten gab. Windjacken bordeauxfarben, Hosen braun, ganz bestimmte Westen. Heute kriegt man so etwas Ähnliches nur noch bei C&A. Aber selbst wenn sie alle in United Colours of Benetton gekleidet wären - man sähe es immer noch. Die Körperhaltung, die Gesten, das bleibt. Nicht so rempelnd selbstsicher wie die Westler gebärden sich die Menschen aus der Ex-DDR. Die Gesichter – nicht so geschäftsmäßig, nicht so unnatürlich und verstellt. Eine junge schüchterne Mutter aus Frankfurt an der Oder stimmt uns zu. Die aus dem Osten sind natürlicher. Sie haben das offenere Gesicht.
„Nein. Wir sind aus´m Westen!“ entrüstet sich ein Herr im auberginefarbenen Blouson, der mit seiner Frau an der Spree promeniert. „Meine Freundin hier meint, man könne vom reinen Ansehen Ostler von Westlern unterscheiden,“ untergrabe ich Erikas Projekt. Denn es reicht jetzt langsam, wie sie in ihrer sensiblen Ostmanier die Leute überrumpelt. „Ich bin der gleichen Meinung“, entgegnet überraschend der Herr. „Ich sehe das auch. Auf jeden Fall.“ - „Woran sehen Sie das?“ fragt Erika. - „Das sehe ich einfach,“ sagt der Herr. „An den Schuhen, an denen spart der Ostler gern.“ „An der Gesichtsfarbe“, hilft ihm seine Frau. „Am Gesicht. Genau“, pflichtet der Herr ihr bei. Er erkenne sie immer, die Mauergesichter, die so grau aussehen. So verschlossen und misstrauisch. Mit ihrem Spitzelkomplex. Keiner kann ihm was erzählen. Er sieht das. Nie irrt er sich. Der Herr hat Pech, denn natürlich muss er sich nun unter unserer Aufsicht dem Test unterziehen.
„Nein, ich komme aus Neukölln“, lächelt die befragte Dame. Sie nickt höflich und wünscht noch viel Erfolg. Die Spree plätschert leise und der Herr überlegt. „Die hat sich gut getarnt“, sagt er endlich. Kleidet sich westlich. Ist aber aus dem Osten. Die können das nämlich, mit der Tarnung, die Ossis. Aber dann übertreiben sie ein bisschen, wie diese Frau, die zu teuren Schmuck anhatte für eine Frau aus dem Osten. Und daran erkennt man sie dann. „Wissen Sie“, schließt er. „Ich habe überhaupt das Gefühl, dass wir hier immer noch eine Menge Stasi zu laufen haben.“ Seine Frau pflichtet ihm bei.
„Der Typ war aus dem Osten - eindeutig!“, knufft Erika mich an, als der Herr mit seiner Frau außer Hörweite ist. „Der kann nur aus dem Osten sein, wenn er so ein Ding mit der Stasi am laufen hat. Der war selber bei der Stasi. Hast du gesehen, wie der guckt? Wie so ein Detektiv. Oder ein IM. Und genauso durchgedreht wie ein IM. Der war bei der Stasi, und das will er vertuschen, deshalb erzählt er, dass er aus dem Westen ist.“ „Der Typ ist total irre“, fasse ich zusammen und überlege zugleich, ob meine Freundin vielleicht auch gerade überschnappt. Erika ist schon wieder davongelaufen. „Erika!“ rufe ich. „Es reicht jetzt!“ Zu spät, Erika ist bereits mit zwei Männern mit Bierflaschen im Gespräch. Sie haben einen Hund bei sich, der offensichtlich in der Spree baden war und sind sehr nett.
„Klar sind wir aus´m Osten“, sagt der eine. „Dit sieht man doch bei uns. Schnäuzer, olles T-Shirt, Bierbauch, kurze Hosen, Sandalen und Socken dazu. Dit würde keen Westler so tragen.“ „Die Sandalen schon“, widerspricht der andere Mann, „aber der Westler würde keene Socken drunter anziehen. Dit is sicher.“ „Bestimmt nicht diese Socken jedenfalls“, bestätigt sein Gefährte. „Nicht weiße kurze Socken in Sandalen.“
„Würden Sie sich auch zutrauen, andere Leute aus dem Osten zu erkennen?“ fragt Erika. „Da hinten!“ sagt der erste Mann. „Da läuft auch ein Mann mit so Sandalen und Socken, wie wir sie haben. Der is aus´m Osten.“ „Wir fragen ihn“, beschließt Erika.
Der Proband mit den Socken ist Lehrer einer Schulklasse und kommt aus Brandenburg. Er ist von einer Schar von Achtjährigen umringt, die von der Idee, Ost und West zu raten, sofort begeistert sind. „Nun sagt mal“, sagt er zu seinen Kleinen, „seid ihr aus dem Osten oder aus dem Westen?“ „Aus´m Osten!“ „Aus´m Westen!“ johlen die Kinder. „Woher jetzt? … Komm, Mausepieps“, spricht er direkt ein blondgelocktes Engelchen an, „sag mal, bist du aus dem Westen oder aus dem Osten?“ „Das weiß ich nicht“, piepst das Mädchen. „Wo bist du denn geboren?“ - „Im Krankenhaus.“ - „Und wo war das Krankenhaus?“ - „In Berlin.“ Das Mädchen ist den Tränen nahe. „Also“, nimmt ein Junge die Sache in die Hand: „Meine Oma und mein Opa waren im Osten, mein Vater und meine Mutter waren im Osten, also bin ich auch im Osten.“ „Das kommt drauf an, wo man zur Welt gekommen ist“, widerspricht ein anderer.“ „Dann bin ich ´n Ossi! Super!“ „Die aus dem Osten sind ja manchmal in den Westen geflohen“, trägt ein dritter Junge bei. „Nein, die aus dem Westen in den Osten!“
„Und woran erkennt ihr denn jetzt die Wessis? Oder die Ossis?“, bohrt Erika.
„Meine Mutter sagt, die aus´m Westen können besser kochen“, kräht ein Mädchen. „Ist doch total egal“, schießt ein anderes quer. „Ist doch egal, aus welchem Land man kommt.“ „Vielleicht sind die Ossis größer als die Wessis.“ - „Die Ossis sollen größer sein als die Wessis?“, frage ich - „Ja, mein Vater kommt aus dem Osten und ist viel größer als meine Mutter.“ „Ost, Ost, Ost“, singt ein recht kleiner Junge und springt im Kreis herum.
„So, jetzt reicht es“, sagt der Lehrer zur jüngsten Generation aus Ost und West. Es werde jetzt Zeit, dass man weiter kommt. Und das finden wir auch.
Erschienen in „der Freitag“ zum Tag der deutschen Einheit im Jahr 2005