Dialektik der Party

Nicht jeder lebt in einem Viertel, mit dem man auf Facebook befreundet sein kann. Wir wohnen in einem. Das Gute ist, man fühlt sich immer als Teil von etwas. Als Teil des coolen Wrangel­kiez, der sich auf Facebook zur Privat­party verab­redet. Oder als Teil des Anti Wrangel­kiez, der gegen diese Parties zu Felde zieht. Denn auch das Private ist politisch und die Parties sind längst verein­nahmt, von Touristen, vom Feind und von der Image­indus­trie. Dabei sitzt der Anti-Wrangelkiez in denselben Espresso-Bars wie der coole Kiez, und wenn Cool Wrangel­kiez feiert, feiern wir die Anti-Party nebenan – bis eine Bürger­initia­tive uns gleicher­maßen das Licht ausschießt. Man nennt das Dialektik. Und die ist zwangs­läufig. Ich will erzählen, weshalb. In meiner Geschichte, die das wahre Leben schreibt, ist es ein Donnerstag. Irgendwo im Haus wummerte es. Die Party ist da. Weil wir dem kriti­schen Flügel der Anti-Party angehören, machen wir kein Geschrei, sondern stehen auf, ziehen uns an und schlen­dern zum Späti. Der kritische Flügel der Anti-Party verur­teilt zwar die Unmensch­lich­keit der Image­indus­trie, will aber selbst nicht unmensch­lich werden und verzichtet auf Besen­stiel­wum­mern gegen Wände oder Decken. Oder auf Handgra­naten. Oder auf die Polizei. Wir schlen­dern einfach zum Späti, kaufen Bier und warten bis die Party zu Ende ist. Als wir vom Späti zurück sind, treffen wir Heiko. Er ist unser Nachbar und wohnt parterre. Heiko ist auch Teil der Anti-Party, gehört aber nicht dem kriti­schen Flügel an. Er verzichte nur deshalb darauf, handgreif­lich zu werden, weil er sich keine Chance ausrechne, erklärt er am offenen Fenster. Die Party steigt nämlich direkt nebenan, bei ebenfalls geöff­netem Fenster. „Frag doch höflich, ob sie das Fenster zumachen“, raten wir. Heiko will nicht. „Wir haben Bier“, sagen wir. „Kommt rein“, sagt er. Wir steigen durchs Fenster. Dann decken wir den Tisch mit den Bierfla­schen und hören seltsame Musik, die man bei Heiko hören kann. Es wird bald gemütlich, und weil wir uns so zufällig getroffen haben, wird sogar das Gespräch ganz gut. Heiko ist ein Misan­throp aus den Achtziger Jahren, und manchmal mag er es, wenn er ein bisschen auftauen muss. Wir wollen gerade nochmal nach draußen gehen und mehr Bier holen, da sehen wir, dass da welche auf der Fenster­bank sitzen. Hättet ihr euch denken können, dass das passieren kann, mag man uns vorwerfen. Hatten wir aber nicht. Auf dem Fenster­brett sitzen also zwei Mädchen. Und zwar so, dass die Beine in Heikos Zimmer baumeln. In den Händen halten sie je eine Flasche Bier. „Ach du Scheiße“, sagt Heiko, in der Hoffnung, dass die Mädchen ihn hören. Aber sie hören ihn nicht, weil die Musik so laut ist, und außerdem sind sie ins Gespräch vertieft. „Scheiße“, sagt Heiko noch mal zu uns. Jetzt haben die Mädchen uns gesehen. Und grinsen. Sie grinsen einfach. Dann erzählen sie freund­lich, – dass sie aus Wolfen kommen und dass sie geglaubt hatten, dass das hier mit zur Party gehört. Es sei so wunderbar. Unsere Stadt. Diese Nacht. Überhaupt. Beim Wort wunderbar saugt das Mädchen strahlend etwas Nachtluft ein.


Um es kurz zu machen, wir wissen nicht genau, ob aus diesem Stell­dichein noch eine richtige Party geworden ist, denn wir gingen dann bald. Aber wir können sagen, dass wir uns mit den Mädchen noch sehr nett unter­halten haben, über Melkro­boter und Windräder und über die Raumfahrt. Und dass wir von unserem Fenster aus noch sehen konnten, wie noch weitere Leute an Heikos Fenster stehen blieben. Und dass Heiko am Tag danach ziemlich entspannt aussah.

Erschienen in der taz - 24. Mai 2011