Im Wünschen bin ich wirklich gut

Du musst sehen, was du willst. Und dann die Linse wieder leicht unscharf stellen. Dann wirst du Bücher schreiben, Busse lenken und Schwer­trans­porter fahren können.

Am liebsten mag sie es, wenn sie mit der Linie 2 aus der Erde auftaucht, und dann ist plötzlich das Licht da. Einmal gab es Schnee, der unglaub­lich leuchtete, und sie war die erste, die eine Spur in ihn fuhr. Als sie Kind war, sagten ihr ihre Mitschüler, sie sei das hässlichste Mädchen. Weil ich dünn war und groß und meine Nase. Aber ich kann wünschen. Im Wünschen bin ich wirklich gut. Auch heute ist Antje Bösler hoch wie ein Zollstock und um die Hüfte so gerade, dass manche sie von weitem für einen ziemlich großen Mann halten. Sie ist Fahrerin und fährt auf zwei Berliner U-Bahnlinien und weiteren 75 Bus-Linien. Es gibt wenige Fahrer, die so viele Strecken gleich­zeitig bedienen, und auch sie würde es nicht machen, wenn es nicht das wäre, was sie sich immer gewünscht hätte. Noch lieber als U-Bahnen fährt sie die gelben Berliner Stadt­busse. Wenn du vorn vor der riesigen Windschutz­scheibe sitzt, fliegen die Häuser­fluchten auf dich zu, und die Stadt ist wie im Drei-D-Film. Am liebsten mag sie die Buslinie M 29. Das ist ein Doppel­de­cker, der wie ein Uhrpendel von einem Ende der Stadt zum anderen schwingt. Du fährst am Hermann­platz los, vorbei an ungefähr einer Million Pittbull­fri­seuren und Shisha­bars – und kommst im Grunewald raus, wo ´s plötzlich Gärten gibt. Der Moment, wenn die Gärten auftau­chen, den mag ich. In den Gärten wachsen Kiefern, hoch wie Mammut­bäume. Die Kiefern riechen nach Strand.

Mit dem Wünschen hat sie schon angefangen, als sie Kind war und die Gegend, wo sie aufwuchs, noch Ostberlin hieß. Ihr bestge­hasster Mitschüler hatte ihr einmal eine Wurst­scheibe auf den Kopf gelegt. Da habe ich mir gewünscht, dass alle Respekt vor mir hätten. Sie vermö­belte ihn derart, dass sich anschlie­ßend niemand mehr etwas traute. Das war dieselbe Zeit, als sie ihr Pionier­hals­tuch mit einer Sylves­ter­ra­kete in den Himmel schickte und ihre Deutsch­leh­rerin ihr sagte, sie würde nie weit kommen. Das war auch die Zeit, als Antje viel im Wald herumlief, den Geruch der Kiefern mochte. Heute würden Kinder wie Antje sicher von einem Spezia­listen betreut, der irgendein ein Spezi­al­syn­drom erkennen würde, das beson­derer Betreuung und Versor­gung bedarf. Aber das alles kannte die DDR noch nicht, und vielleicht hatte das sein Gutes. Denn so habe ich meine Kraft behalten und habe im Wald viele Hütten und Baumhäuser gebaut. In dieser Zeit wuchs in diesem großen Mädchen mit den Michel-aus-Lönneberga-Haaren ein großer Wunsch, nämlich der, Schrift­stel­lerin zu werden. Aber das sagte sie niemandem, weil das wäre ja albern. Eine Legasthe­ni­kerin, die schreibt. Doch sie wusste damals schon – wie Wünschen geht. Und zwar so wünschen, dass es Wirklich­keit wird. Du musst sehen, was du willst. Und dann die Linse wieder leicht unscharf stellen. Das unscharf stellen ist wichtig. Zu klar umrissene Wünsche erfüllen sich nicht. Danach musst du locker lassen, das ist genauso wichtig. Du musst dem vertrauen, was man den Zufall nennt. Und unterwegs musst du unbedingt das Schöne sehen. Das ist am Wichtigsten.

Für Antje hielt die Wunder­tüte des Lebens zunächst eine Stelle als Köchin bereit. Aber als Köchin guckt man in Töpfe, sieht nichts als Salzkar­tof­feln, kommt nirgend­wohin und wird müde. Eines Tages stand eine Anzeige in der Zeitung: Omnibus­fahrer gesucht. Der Gedanke gefiel ihr. Allein die Vorstel­lung, ein so großes Fahrzeug zu bewegen, machte ihr Lust. Sie probierte es. Diese DDR-Busse hatten noch keine Servo­len­kung, wenn du die um die Kurve bringen wolltest, musstest du noch richtig Kraft reingeben, und das passte phantas­tisch zu meinem Charakter. Einmal sprang er nicht an, und Antje versuchte, ihn mit zwei Kabeln kurzzu­schließen. Leider hat es eine riesige Stich­flamme gegeben. Haben wir gelacht. Bald darauf wurde die DDR samt ihrer Ikarus­busse Geschichte, das Berliner Verkehrs­netz wurde weiter, und man sah noch mehr von der Stadt. Um den größt möglichen Horizont zu genießen, ließ Antje sich als Sprin­gerin einsetzen. Die Springer, auch „Flexi­fahrer“ genannt, sind die Cowboys unter den Busfah­rern. Sie mäandern nicht allein auf ein paar Stamm­stre­cken hin und her, sondern chauf­fieren durch den gesamten Kosmos der Großstadt.

Antje schafft es, einem den Stecker zu ziehen, indem sie sagt: Als Busfah­rerin trägst du ja Verant­wor­tung. Schau, du musst dir vor Augen führen, bei manchen Leuten bist du am Morgen der erste Mensch, den sie sehen. Da verdienen sie zum Beispiel ein Lächeln. Antje Bösler, die einmal, als sie in ihren liegen geblie­benen Bus einsteigen wollte, von der Polizei von weitem für einen männli­chen Dieb gehalten wurde, verhaftet wurde und Handschellen bekam, kann ausge­spro­chen zauber­haft lächeln – und zwar aus so knall­blauen Augen, dass das Lächeln mühelos bis zur anderen Straßen­seite strahlt. Die Taxifahrer, als muffige Gesellen verschrieen, machen ihr anstandslos die Spur frei und nicken freund­lich. Antje mag es, sich so durch den Verkehr zu lächeln. Am liebsten mag sie, wenn sie Leute zum Zurück­lä­cheln bringt, die gar nicht vorgehabt hatten, zu lächeln. Zum Beispiel diese Leute, die in ihrem Bus mitfahren und sich leiden­schaft­lich über alles und jedes beschweren. Darüber, dass der Bus zu spät kommt. Oder dass der Platz, auf den sie meinen, einen Anspruch zu haben, von anderen belegt ist. Antje, die noch immer binnen Minuten aufbrausen kann, hasst nichts aufrich­tiger als das. Wir leben in einer Beschwer­ge­sell­schaft. Um die zu erschüt­tern, hat sie sich eines Tages, etwas ausge­dacht. Warum der Bus zu spät kommt, junge Frau? Da könnte ich Ihnen einen Sack voller Geschichten erzählen. Sie glauben mir nicht? Hier gebe ich Ihnen eine. Und drückt der Dame mit der New York Mütze ein Blatt Papier in die Hand. 

Da hatte sie, während sie so viele Kilometer zurück­legte, dass man mühelos bis ans Kap Horn und zurück kommen könnte, alles mögliche aufge­schrieben, das Verspä­tungen im Leben einer Fahrerin manchmal schlicht unver­meidbar macht. Eins der Wunder, die man nicht hoch genug schätzen kann, ist doch allein eine Bustür, die sich eintau­sendmal schließt und wieder öffnet. Wer erzählt davon, dass so eine Tür auch mal kaputt gehen kann? Was tust du, wenn dir im Grunewald ein rasender Rollstuhl entgegen kommt, den eine Dame fährt, die unstoppable ist? Oder wenn ein Laster im Weg steht, dem seine Eiscreme­fracht schmilzt? Wer rettet auf der Potsdamer Straße ein verletztes Hallo­ween­monster? Wer erzählt davon, wie es ist, wenn man das Leben und das Fahren ganz einfach mag? 

Wenn man etwas sehr stark wünscht, dann kann man es auch. Zum Beispiel schreiben. Auch dann, wenn man eine Recht­schreib­schwäche hat. Antje Bösler schickte der Zufall eine Helferin: eine Deutsch­leh­rerin, die am Abend mit ihr Texte korri­gierte Aber vorsichtig. Mit Grünstift. So dass Antjes Stil erhalten bleibt, die gern „märchen­haft“ schreibt statt „schön“. Aber auch „jemanden auf die Bretter schicken“. Die Sache muss ihre Kraft behalten. Schreiben ist ein bisschen wie fahren. Man ist unterwegs: Nachdem ihre Fahrgäste ihre Geschichten mochten, traute sie sich, und gründete ihren eigenen Blog. Bald darauf erprobte sie sich auf einer von Berlins offenen Bühnen. Kürzlich war ein Kamera­team bei ihr: Privat­leute erzählen ihr Leben. Die ausdrucks­stärksten kommen ins Fernsehen. Antjes Erzählung war natürlich eine von ihnen. Und so könnte es weiter­gehen – wie ein Stein, der über ein Wasser springt.

Am liebsten will sie ihre Bus-Geschichten eines Tages als Buch veröf­fent­li­chen. Und dann will sie noch ein weiteres Buch schreiben. Das soll vom Wünschen handeln. Denn Antje meint, dass man die Technik des Wünschens lernen kann. Antje Bösler zum Beispiel wünscht sich zum Beispiel auch, noch einmal in ihrem Leben einen Schwer­trans­porter zu fahren. Das wäre groß. Sie ist sicher, dass sie eines Tages auf einem fahren wird.

Tatsäch­lich ist es Antje Bösler gelungen, ihre Geschichten zu veröf­fent­li­chen:

Antje Bösler: „Tagebuch einer Busfah­rerin, Abgefahren“, Verlag Akademie der Abenteuer, 2021

Erschienen in der taz – 04.Juli 2015