Die Mühe ums Wasser

Brunnen­bau­meister Eberhard Birnack hat eine besondere Ortskenntnis. Rund um Beeskow kennt er jedes Dorf und nahezu jedes Haus. Sogar die Höfe, die allein mitten im Wald oder auf dem Acker stehen – Allein­lagen nennt man sie – kennt er. Gerade die. Denn weil diese Anwesen keinen Anschluss an die kommunale Wasser­ver­sor­gung haben, hat Herr Birnack bei jedem von ihnen irgend­wann einen Brunnen gebohrt.

Und wenn er selbst es nicht war, dann war es sein Onkel, sein Großvater, sein Urgroß­vater oder sein Ururgroß­vater. Der Ururgroß­vater trug den Namen Karras. Er gründete im Jahr 1886 den Handwerks­be­trieb „Karras Brunnenbau“. Eberhard Birnack übernahm ihn im Jahr 1989. Eine Brunnen­bau­dy­nastie. Könnte man sagen.

Wer Herrn Birnack ein Stück durch seinen Tag begleitet, wird Zeuge von Dialogen wie diesem:

Junge Frau: „Sie müssen kommen.“

Herr Birnack: „Wo brennt es denn?“

Sie: „Es brennt nicht. Unser Wasser ist braun.“

Daraufhin er: „Dann machen Sie doch Kaffee damit.“

Es entspinnt sich ein kleines Gespräch. Sie sagt ihm, wo sie wohnt. Dass es eine Allein­lage sei, und dass sie kein anderes Wasser habe, als eben dieses aus dem Brunnen.

Herr Birnack sagt ihr: Weiß ich doch, wo Sie wohnen. Schließ­lich hat er den Brunnen auf ihrem Hof gebohrt, auch wenn das schon zwei, wenn nicht drei Jahrzehnte her ist. Auch den Kanal­de­ckel müsste er finden, unter dem der Brunnen­schacht ins Erdreich führt. Auch wenn der längst mit Gras überwachsen ist.

„Müssen wir neu bohren?“, fragt die junge Frau nieder­ge­schlagen.

„Glaube ich nicht“, beruhigt Herr Birnack.

„Wenn das Wasser braun sei, liege das meistens nicht am Brunnen. Das habe öfter mit alten Leitungen zu tun. Kriti­scher wäre es, wenn der Brunnen immer weniger Wasser gebe. Dann sei er vielleicht dabei, zu versanden.

Sie unter­halten sich noch eine Weile. Über Häuser und deren Vorbe­sitzer und über Dinge, die kaputt gehen und neu gemacht werden müssen. Die junge Frau klingt schon zuver­sicht­li­cher. Und mir wird klar, dass Brunnenbau und das Betreuen von Brunnen etwas sehr Persön­li­ches ist.

Die Firma Karras ist ein Famili­en­be­trieb. Sein Herzstück ist der Bohrer, der bis in die zweite Schicht des Grund­was­sers reicht. „Es gab drei Eiszeiten“, kann Herr Birnack erzählen. Während jeder Eiszeit schoben sich Eismassen übers Land und verdich­teten unter sich den Sand zu undurch­läs­sigen Tonschichten. Drei Eiszeiten – drei Tonschichten. Auf jeder von ihnen sammelt sich heute das Grund­wasser. Die oberste Schicht nennt der Volksmund das „Schich­ten­wasser“. Sie liegt nur wenige Meter tief. Die nächst tiefere Schicht reicht von dreißig bis in etwa hundert Meter Tiefe. Die dritte Schicht beginnt mehr als hundert Meter tief und führt das reinste und kostbarste Wasser. Es ist durch Kiesschicht um Kiesschicht gesickert, zigfach gefiltert und mit Minera­lien angerei­chert. Nur die Tiefen­brunnen von Wasser­werken, die Trink­wasser fördern, Mineral­was­ser­brunnen oder Braue­reien entnehmen hier ihr Wasser. „Darüber hinaus“, weiß Herr Birnack, „lässt man diese tiefste Schicht heute weitest­ge­hend in Ruhe.“

Eberhard Birnacks Geschäft sind sehr viel kleinere Brunnen. Brunnen von Hausei­gen­tü­mern oder von Landwirten. Meist reichen sie in die erste oder zweite Grund­was­ser­schicht. Auch Birnacks Vorfahren haben schon Brunnen für die Bauern­höfe rund um Beeskow gebaut. Es waren meist einfache Brunnen, nicht mehr als ein paar Armlängen tief. Dennoch kosteten sie viel Muskel­kraft. Während eine Auflast einen Metall­schnei­de­ring ins Erdreich drückte, schau­felten Männer von Hand den Aushub nach oben. Auch Brunnen­boh­rungen gab es schon. Aller­dings trieben nicht – wie heute – starke Maschinen den Bohrer an. Sondern die Arbeiter nahmen einen simplen Dreibock dazu. Am Kossen­blatter Schloss beispiels­weise drangen Vorfahren von Herrn Birnack auf diese mühevolle Art 78 Meter tief ins Erdreich ein.

Wenn ein Brunnen gebohrt werden soll, ist die spannende Fragen: Wie tief muss der Brunnen werden? Wie viel Geld muss ein Mensch kalku­lieren, um die Leistung zu bezahlen, entweder zehn, zwanzig – oder dreißig Meter tief ins Erdreich zu gehen?

Lässt sich das planen? Gibt es Karten darüber? Oder Verfahren? Es gibt sie.

Es gibt Hightech-Methoden, anhand von Wellen­längen der Elemente per Satelit zu erkennen, wo Wasser ist. Für kleine Privat­leute aller­dings ist das zu teuer. Das Land Branden­burg stellt außerdem seine Geodaten bereit. Die besagen, dass es in bestimmten Spannen – in zwanzig bis fünfzig Metern Tiefe zum Beispiel – Wasser gibt. Für die meisten Privat­men­schen aber ist das zu grob skaliert. Denn ob zwanzig oder fünfzig Meter tief gebohrt werden muss, macht für den Geldbeutel von Normal­ver­die­nern einen empfind­li­chen Unter­schied. Für kleine Auftrag­geber gibt es nur einen Anhalts­punkt, abzuschätzen, wie tief auf ihrem Grund­stück ein Brunnen gebohrt werden muss: Die Erfahrung. Birnacks Wissens­schatz – aus über hundert Jahren Brunnenbau ist daher – von unschätz­barem Wert.

Eberhard Birnacks Kunden sind recht verschieden. Früher wie heute brauchen Landwirte Brunnen, vor allem, um Vieh zu tränken. Unter­nehmen brauchen Brunnen, um Kühlwasser zu gewinnen. Autowasch­an­lagen lassen sie bauen, damit das Wasch­wasser zirku­liert. Lösch­wasser war ist und bleibt ein großes Thema, das vielleicht – wenn es trockener wird, – noch an Relevanz gewinnt. Nicht zu unter­schätzen sei Birnack zufolge auch der Wasser­be­darf von Sport­plätzen und von Fried­höfen. „Sie ahnen nicht“, sagt er, „wie viel Wasser die Menschen auf Fried­höfen vergießen.“ Ums Gießen geht es auch den Garten­be­sit­zern, für die Birnack Brunnen bohrt. Ein neuerer Stern, der noch immer im Steigen begriffen ist, ist die Dreifal­tig­keit von Brunnen, Bewäs­se­rungs­an­lage und Mähro­boter. Herr Birnack formu­liert das so: „Die Leute wollen ein Eigenheim, wollen Rasen, wollen in den Urlaub fahren, und möchten, dass derweilen alles gepflegt aussieht.“

Wofür Wasser vergossen werden darf, ist heute – anders als früher – eine morali­sche Frage. „Hättest du früher einem Bauern gesagt, du wolltest das Brunnen­wasser, das mühevoll nach oben gepumpt werden muss , im Sommer auf deine Wiese schütten, damit sie grün bleibt  – er hätte dir den Vogel gezeigt.“ Heute gilt, wer seinen Rasen sprengt, nicht als Spinner, sondern als schlechter Mensch. Weil Herr Birnack kein Moralist sondern ein Techniker ist, sieht er nicht gut oder böse – sondern er sieht ein Verhältnis. Er rechnet vor: „500 Kubik­meter Wasser entnimmt ein Garten­be­sitzer – wenn er viel verbraucht – im Jahr. Ein Wasser­werk pumpt dieselbe Menge in einer Stunde nach oben.“ Abnehmer, die das Zeug hätten, im Landkreis den Grund­was­ser­spiegel zu beein­flussen, seien Großun­ter­nehmen wie Tesla.

Die Kragen­weite von Herrn Birnacks Kunden ist das nicht. Ihnen ist gemeinsam, dass sie in diesen Größen­ord­nungen dem Erdreich niemals Wasser entziehen werden. Gemein ist ihnen auch, dass es Handwerks­be­triebe, die für ihren Bedarf Brunnen bauen, bald nicht mehr geben wird. Eberhard Birnack wird in den nächsten Jahren in Rente gehen. Bisher hat sich noch kein Nachfolger gefunden.

In der Zukunft, schätzt Birnack, werden wenige und dafür größere Firmen für Brunnenbau das Rennen machen. Menschen, die rund um Beeskow wohnen und einen Brunnen benötigen, werden für teurere Technik und weitere Anfahrten sehr viel höhere Preise berappen müssen. Einer jungen Frau, die ein Haus gekauft hat, das weit draußen liegt, wird niemand sagen können, wo ihre Brunnen­schacht liegt, wenn über seinen Deckel Gras gewachsen ist. Oder wie tief gebohrt werden muss, wenn sie wirklich einen neuen braucht. Der Wissens­schatz des lokalen Brunnen­hand­werks wäre verloren.

Erschienen im kursbuch oder-spree 2021