Vom Wandel der Gasthauskultur im ländlichen Brandenburg
Gasthöfe sind Schauplätze von Wirtshausgeschichten, die auf besondere Weise von ihrer Zeit erzählen. Die Geschichten, so stellt man sich das vor, sind weingeistgeschwängert, lebensbesoffen, fröhlich und laut. Aber manchmal ist es auch ganz still im Gasthaus. Und auch das erzählt eine Menge. An einem Werktag Nachmittag im Gasthaus Simke im Dorf Herzberg Mitte der 1950er Jahre konnte es passieren, dass im Schankraum nur ein kleines Mädchen saß. Es machte seine Schulaufgaben und wachte, ob vielleicht ein Gast hereinkäme und ein einsames Bier mit einem Schnaps bestellte. Über dem Tisch drehte sich wahrscheinlich ein Fliegenfänger, der Boden war Diele, der Tresen in Ölfarbe gestrichen, weiß. Das Mädchen hieß Margrit Simke. Im Jahr 1957 ist sie acht Jahre alt. Ihre Eltern, Siegfried und Anneliese, sind die Wirte. Und weil sie zugleich Landwirte auf dem Hof Simke sind, haben sie eine Menge anderes zu tun, als auf den einsamen Nachmittagsgast zu warten. Das Problem mit den potenziellen Gästen ist, dass auch sie Landwirte sind und nachmittags für Bier keine Zeit haben. Auch am Abend sind sie beschäftigt, denn sie müssen die Tiere versorgen. Vielleicht ist „Problem“ das falsche Wort. Denn niemand lebt von der Gaststätte. Ihr Zweck ist, dass die Handvoll Männer, die gesellig sein wollen, dies sein können – bei Simke steht die Tür dazu offen. Außerdem bietet sie Raum fürs sonntägliche Frühschoppen und einen Saal für Feiern.
Dies ruhige Bild beschreibt das Mädchen von damals, die heute Wirtin ist, als: „typische Dorfgaststätte“ in einem brandenburgischen Bauerndorf. Seine Geschichte reicht weit zurück: 1562 ist Promaß Noagk als erster „Krüger“ vermerkt. Seit 1770 führt laut Familienchronik die Familie Lichterfeld die Schankwirtschaft. 1811 übernehmen Gottfried und Alma Simke. 1881 fällt das Gasthaus wie fast ganz Herzberg einem Großfeuer zum Opfer. Im Zuge des Wiederaufbaus bekommt es eine schmucke Stuckfassade. In all diesen Jahren bleibt es eine „typische Dorfgaststätte“, und die meiste Zeit ist es so still, dass kaum jemand eine Fliege beim Summen stört. Nur an manchen Abenden tagt der Herzberger Männerchor, der sich 1893 gründet. Männer im Frack nehmen ein Gruppenfoto auf, das heute in Simkes Gaststube hängt. Auch ein Posaunenchor, ein Landwehrverein, ein „Rauchkollegium“ sind zu sehen. Die Anwärter des Rauchkollegiums, heißt es, mussten im Gasthaus Simke unter einem Sack sitzend Pfeife rauchen. Aber im Grunde wissen wir nicht viel über die Herren im Frack. Nicht, ob es bei ihren Vereinstreffen derbe zugeht. Ob viel getrunken wird. Nicht wie eine Bauernhochzeit im Saal verläuft. Nachdem Urgroßvater und Großvater von Frau Schulz in den Ersten und Zweiten Weltkrieg gezogen waren, das Hakenkreuz über Herzberg aufgezogen und wieder abgenommen war, die Bodenreform durchgeführt war und die Bauern versuchen, ihr Soll zu erwirtschaften, übernehmen 1946 Siegfried und Anneliese Simke das Lokal.
Eine völlig neue Form der dörflichen Gaststättenkultur entsteht, als die LPG eingeführt wird. 1958 wird Simke Konsumgaststätte. 1961 „kommt die LPG“. Die LPG bringt den Feierabend. Es gibt feste Arbeitszeiten – und damit plötzlich auch Freizeit. Punkt 17 Uhr strömen die LPG-Bauern in den Schankraum. „Und die tranken alle bei uns ihr Bier“, erzählt Frau Simke-Schulz. Über diese Tresenabende wissen wir etwas mehr, als über die Vereinsabende der Herren im Frack. Zum Beispiel erzählt Margrit Simke-Schulz, dass „manche schon nach dem dritten Bier nach Hause gingen.“ Und es gibt die Geschichte, dass Vater Siegfried einmal ein Pferd von der Straße in den Schankraum brachte. Während die Männer am Tresen finden, dass das Pferd durstig sei, meint Margrit, das Pferd müsse wieder nach draußen.
Siegfried und Anneliese Simke sind die ersten Inhaber, die hauptberuflich nicht mehr Bauern, sondern Wirte sind. Der Gasthof bleibt Privatbesitz, aber sie sind nun Angestellte der Konsumgenossenschaft. Das bedeutet ein völlig anderes Leben. „Heute herrscht das Bild vom Bauern vor, der seine Eigenständigkeit einbüßte und darüber sehr traurig war“, versucht Frau Simke-Schulz die Zeit verständlich zu machen. „Aber meine Eltern hatten zuvor ein so schweres Leben, dass sie erleichtert waren, viele Zwänge und harte Arbeit loszusein.“ Zum ersten Mal im Leben können sie in den Urlaub fahren. Die Losung „Kultur aufs Land“ macht den Gastraum in regelmäßigen Abständen zum Kino. Und ab den späten 1960er Jahren werden der Jugend, um sie von der Straße – oder besser gesagt vom Dorfanger – fernzuhalten, Tanzveranstaltungen geboten. Dazu spielt eine Kapelle Coverversionen von Beatmusik. Die Veranstaltungen laufen wie Bombe. „Um 17 Uhr ging es los“, erzählt Frau Simke-Schulz, „Wenn die Jugendlichen mit dem Zug im einen Kilometer entfernten Lindenberg ankamen und von dort in Richtung Herzberg wanderten, war die Straße so voll, dass kein Auto mehr durchkam.“ Punkt 22 Uhr ist Schluss, und die Jugend wird wieder aus dem Saal herauskomplimentiert. Denn nicht nur Tanz, sondern auch Ordnung ist ein wichtiger Bestandteil der neuen Dorfgaststättenkultur. Als Simke immer mehr Betriebsfeiern ausrichtet, wird offenbar, dass die Küche, in der bislang selten mehr als ein paar Bockwürste warm gemacht wurden, zu klein geworden ist. Der Geflügelschlachthof, die Molkerei Beeskow feiern im Saal. Auch Margrit packt mit an. 1970 heiratet sie und nimmt den Namen Schulz an. Im Jahr 1983 übernimmt sie die Gaststätte.
Mit Margrit Schulz beginnt die Ära der Speisegaststätte Simke. Sie verwirklicht ihren Traum, eine professionelle Küche einzubauen. Nach und nach bringen sie die Gaststätte auf Vordermann. Ersetzen die Dielen durch neues Parkett und die alten Fenster durch große moderne Fenster. Nach und nach sieht es aus wie ein Gastraum nach dem damaligen Zeitgeschmack. Der Restaurantbetrieb allerdings ist mit den Widrigkeiten knapper Lebensmittelzuteilung konfrontiert. Die Wirtin muss mit „kleiner Karte“ anfangen. Bauernfrühstück und selbstgemachte Sülze gibt es immer. Schnitzel dagegen selten. Das ändert sich erst, als die Gaststätte 1990 Zeugin des nächsten Systemumbruchs wird. Margrit Schulz wird Privatunternehmerin und löst das Inventar bei der Konsumgenossenschaft aus. Plötzlich kann sie Schnitzelfleisch ohne Limit bestellen. Es gibt zwei gute Monate, in denen die Gäste begeistert sehr viele Schnitzel essen: Mai und Juni 1990. Dann kommt die D-Mark. Zwar gibt es bei Simke nun alles. Aber die Gäste bleiben mit einem Schlag aus.
Margrit Schulz ist klar, dass der Gasthof Simke ein weiteres Mal einen grundsätzlichen Wandel ländlichen Lebens erlebt. Er ist mindestens so erschütternd wie der letzte. Gab es vormals den dörflichen Feierabend, sind von denen, die früher am Tresen saßen, viele arbeitslos und können sich das Trinken im Gasthaus nicht leisten. Wer Arbeit findet, pendelt viele Kilometer zum Job, kehrt spät heim und ist abends zu müde, um ins Gasthaus zu gehen. Vor allem vertragen sich der Alkohol und der lebenswichtige Führerschein nicht. Doch nicht nur das hat sich verändert: „Nach allem, was ich als Wirtin beobachte, haben viele Leute die Nachwendejahre bis heute nicht verkraftet. Sie haben keinen Mut mehr, halten das Geld zusammen und verkriechen sich.“
In ersten Nachwendejahren musste sie fast aufgeben, erzählt Frau Simke-Schulz. „Aber das wollte ich auf gar keinen Fall. Dann tat ich etwas, von dem ich nicht wusste, ob es aufgehen oder mir die letzten Reserven rauben würde“. Sie investierte. Sie kratzte alle Familienersparnisse zusammen, und statt den Betrieb herunterzufahren, baute sie aus. „1992 fingen wir an, den Stall auszubauen und richteten Fremdenzimmer ein. Dabei gaben wir immer nur so viel Geld aus, wie möglich war.“ Und das war die rettende Idee. „Denn in den früher 1990ern hatte in der Region noch kaum jemand Fremdenzimmer.“ Außerdem nahm sie in abgewandelter Form die Tradition der Vereinsgaststätte wieder auf. Sie machte Werbung, und gewann Chöre – nicht nur aus der Region, sondern auch aus Berlin und ganz Brandenburg. Die Chöre buchen günstige Chorwochenenden bei Simke. Ein weiteres Standbein sind Feiern. Zum Gansessen in der Weihnachtszeit bestellen an zwei Feiertagen schon mal 400 Menschen Gans mit Rot- oder Grünkohl, – ein Gericht, das bei Simke einen guten Ruf genießt.
Margrit Schulz, die sich vor kurzem in Simke-Schulz umbenannt hat, ist ehrgeizig und bienenfleißig. Sie ist stolz auf die lange Tradition und will das Lokal gern über weitere Generationen weiterführen. Am meisten liegt ihr der Restauntbetrieb am Herzen. „Wir machen Hausmannskost von guter Qualität und bieten saisonal Spargel, Wild, Fisch, Gans und Schlachteplatten an.“ Die Blut- und Leberwürste sind hausgemacht.“ Auf einer Tafel steht in Kreide angeschrieben, was es außerhalb der Karte gibt. Nicht nur das macht Simke besonders. In unserer Gegend, in der es Gasthöfe, die ehrliches Essen machen, schwer haben, ist Simke eine unersetzliche Institution.
Erschienen im kursbuch oder-spree 2020