Vom schönen Grün

Die meisten Leichen werden in Wohnungen und auf Müllhalden gefunden, aber von den Funden im Wald hört man öfter im Fernsehen und gruselt sich. Vielleicht ein Rest der Angst vor der Natur­ge­walt.

Grün leuchten kleine Dioden, die sagen: alles in Ordnung. Gerät läuft. Ein beruhi­gendes Licht. Grün ist die Farbe der Aufer­ste­hung im Chris­tentum und im Islam die Farbe des Propheten. In der Farben­psy­cho­logie heißt es: Setzen Sie die Farbe Grün bewusst ein. Die Mischung aus Cyan und Gelb bringe das Blau, das für den Traum und die pure Entrü­ckung steht, mit dem weltli­chen, freund­li­chen Gelb zusammen. So entfalte Grün eine besondere Wirkung. Es wird von Designern angewandt, um ein Gefühl von Ruhe und vorbe­wusster Entspan­nung zu erzeugen und zugleich von Optimismus, Tatkraft und Zuver­sicht. Grün wird von Firmen gern in Logos verwendet, weil es Vertrau­ens­wür­dig­keit und Erfolg in einem signa­li­siert. Grün ist die Hoffnung, die begin­nende Liebe, das erwachende Leben, und manchmal steht Grün für Gift.

Grün ist die Natur, weil Chloro­phyll grün reflek­tiert. Deshalb werden alle Flächen, die in unseren Breiten sich selbst überlassen werden, auf die Dauer grün. Seit mit der Romantik die Angst vor der grünen Überwu­che­rung einer tiefen Sehnsucht nach dem Blattgrün, Tannen­grün und Wiesen­grün gewichen ist, ist das Naturgrün eine Metapher für das Gute und Unschul­dige schlechthin. Fährt der Spazier­gänger in die Natur, ist er ganz benommen von all dem Grün. Nur das Blau beherrscht ähnlich weite Räume; wer auf dem Meer segelt, sieht nur noch Blau, den Himmel und die See - wie der Spazier­gänger im tiefen Wald Grün sieht, überall um ihn herum. Das Laub und das Licht, das grün durch das Blätter­dach bricht, dunkel­grüne Moose, Bärlauch- und Maiglöck­chen­de­cken. Die stillen Orte, Lichtungen mitten im Wald, die regel­recht leuchten, überwäl­tigen ihn. Was für ein Frieden.

Entlegene Winkel werden gern auch zum Entsorgen von Dingen verwandt, Autowracks und alte Kühlschränke werden abgestellt, Giftmüll sich selbst überlassen. Leichen werden von Spazier­gän­gern entdeckt, da, wo der Wald am tiefsten ist. Im Unterholz. Die meisten Leichen werden in Wohnungen und auf Müllhalden gefunden, aber von den Funden im Wald hört man öfter im Fernsehen und gruselt sich. Geh nicht in den Wald, sagen Großmütter zu ihren Enkeln. Den entle­genen Winkeln, wo das Grün allein herrscht, haftet auch etwas Unheim­li­ches an. Vielleicht ein Rest der Angst vor der Natur­ge­walt.

Wer in der Provinz aufge­wachsen ist, wie ich es bin, ist mit der grünen Überwäl­ti­gung vertraut. Weder für die Andacht ist er zu haben, noch für den Schauer ist er empfäng­lich. Für den Dorfbe­wohner sind die ersten heimli­chen Orte grün. Der Wald hinter dem Haus mit seinen Schätzen an alten Plastik­fla­schen, aufge­ge­benen Mofas, Couch­gar­ni­turen. Verstecke im Gestrüpp, Baumhäuser. Selbst in der Pubertät bleibt der Rückzugsort ein Jäger­stand und mit Kopfhö­rern auf den Ohren starrt man, in Erman­ge­lung urbaner Kulisse, satte Wiesen an. Grün als Allge­gen­wart. Vielleicht geht es Dorfbe­woh­nern ähnlich wie Seeleuten, die einen spezi­ellen Charakter entwi­ckeln, weil sie eine besondere Lebens­weise pflegen - und vielleicht auch durch den Blick auf das ewige Blau. Wer auf das Grün starrt, ob er zur Schule trottet, böse Musik hört oder Wäsche aufhängt, lebt in diesem Grün, atmet grün. Wenn das Grün auf die Psyche beruhi­gend wirkt, dann mag es in der ständigen Poten­zie­rung ein gewisses, den Landbe­woh­nern eigenes Phlegma befördern, gepaart mit einer Umtrie­big­keit im Prakti­schen. Ob am sandstei­nernen Wasser­turm im Dorf das Haken­kreuz, das vor Jahrzehnten abgeschraubt wurde, noch gut als heller Abdruck zu sehen ist – egal. Ob im Wald direkt hinter dem Haus – tatsäch­lich – an einem Baum hängend eine Leiche gefunden wird. Man baut weiter am neuen Geräte­haus im Garten. Und überlegt, in welcher Farbe er gestri­chen werden soll. Vielleicht in Grün.

Erschienen in der Freitag - 09. Mai 2008