Urbane Speck­würfel der Hoffnung

Seit man einer ganzen Genera­tion von Planern einbläute, dem ländli­chen „Braindrain“ sei mit den eigenen Ressourcen nicht beizu­kommen, scheint die Frage, wer Akteur und wer Statist ist, entschieden zu sein. Und das ist ein Problem.

Ich lese selten die Zeit. Sie ist einfach zu dick für mich. Aber kürzlich lag eine auf dem Fenster­brett im Treppen­haus unseres Kreuz­berger Miets­hauses, wo unsere Nachbarn aussor­tierte Dinge ablegen, die andere vielleicht noch verwenden können. Ein schöner Brauch. Immer, wenn ich dort etwas Neues sehe, spiele ich ein Ratespiel mit mir. Von wem könnten dieser Pulli oder diese Jacke stammen? Vor meinem inneren Auge treten Pulli und   Jacke an. Dann nehme ich die Jacke mit, und frage mich, ob sie nicht ein bisschen zu schick für mich ist.

Nun lese ich also jemandes Zeit. Das Ratespiel fiel kurz aus, denn ich musste zur Bahn, stopfte die dicke Zeit schnell in meinen Rucksack und rannte. Die Zeit war unberührt. Ein Werbe­ge­schenk vielleicht. Der unbekannte Jemand hatte sie einge­steckt, so wie ich jetzt, und dann war sie ihm, genau wie mir, zu behäbig gewesen, um Lust auf sie zu entwi­ckeln. Aber wer eine Bahnfahrt vor sich hat, die eine Stunde und zwanzig Minuten dauert, der hat auch Zeit für Die Zeit. Ich fahre oft auf dieser Strecke. Sie führt dorthin, wo wir seit einigen Jahren ein Haus und ein Leben in einem Branden­burger Dorf aufbauen.

Zum Klang von „Jetzt kommen die lustigen Tage“, einge­spielt vom Regio­nal­be­reichs­leiter für  Technik der Deutschen Bahn mit seinem Keyboard, lese ich erst eine Menge Amerika-Dystopie-Artikel, dann Corona-Dystopie-Artikel und dann – als hätte der vom Redakteur imagi­nierte Leser genau wie ich in diesem Moment genug von dem Dauer­feuer – zwei große Seiten: „Komm, wir ziehen aufs Land.“ Schon die Bilder strahlen Ruhe aus. Viel Herbst­wald, eine Schlei­er­eule und ein Stall, aus dem sehr niedliche Alpakas heraus­gu­cken. Eine „reprä­sen­ta­tive Umfrage des Meinungs­for­schungs­in­sti­tuts Civey“, steht da, habe heraus­ge­funden, „jeder dritte Großstädter würde gern aufs Land ziehen.“ Corona habe diesen Wunsch noch verstärkt.

Die Stadtflucht- und Landlust­de­batte begleitet uns nun schon seit ein paar Jahren. 2016 hieß es zum ersten Mal, der statis­ti­sche Trend drehe sich um. Aus Berlin zögen erstmals mehr Menschen aufs Land, als umgekehrt vom Land nach Berlin. Es folgten Diskus­sionen. Darüber, welche Zuwächse das Land wirklich erwarten dürfe. Und darüber, welche Stadt­kli­entel als künftige Landbe­wohner infrage kommt, wo sie leben möchte und was sie dort braucht. Vor dem Fenster ziehen Stadt­häuser, Datschen, dann Felder vorbei. Auch die Lektüre holt ihren Leser in der Stadt ab und führt ihn dann raus aufs Land. Im urbanen Eimsbüttel wohnt ein nettes und erfolg­rei­ches schwules Paar, das eines Tages genug von der Hektik hat, in einer Annonce den Hof mit den Alpakas findet, über Nacht Nägel mit Köpfen macht, den Hof kauft, seine skandi­na­vi­schen Möbel packt und rauszieht. Dann kommen weitere Protago­nisten: Ein IT-Spezialist namens Carsten kann heute dank Glasfa­ser­kabel zugleich Software entwi­ckeln und dabei ländlich leben. Gemeinsam mit seiner Partnerin Linda liebt er jetzt die Ruhe und die Natur. Dann folgt Silvia Hennig, die jung und sympa­thisch ist, „groß denkt“ und den ländli­chen Boden für Digital­ar­beiter und Menschen mit Zukunfts­be­rufen bereitet. Im Einklang mit einer Studie des Berlin Instituts für Bevöl­ke­rung und Entwick­lung hofft sie, auf diese Weise könnten „Urbane Dörfer“ entstehen, die Zukunft weisen. Dann Fakten: Der Glasfa­ser­ausbau geht voran. Eine Aufs-Land-Bewegung der Menschen mit Zukunfts­be­rufen scheint daher möglich. Immobi­li­en­firmen verzeichnen wachsende Grund­stücks­preise, – nicht mehr nur in den Speck­gür­teln, sondern auch weiter draußen. Von den Zuzügen, erwarten Prognosen, würden die sogenannten „Metro­po­len­re­gionen“ profi­tieren. Entlegene Gebiete dürften dagegen leer ausgehen. Die „Metro­po­len­re­gionen“ aller­dings, heißt es, wüchsen zukünftig weiter wachsen. Und das nicht mehr allein entlang der Gleise und Ausfall­straßen. Sondern entlang der Glasfa­ser­kabel. Die Entfer­nung zwischen Dorf und Metropole muss jetzt nicht mehr so sein, dass sie tägliches Pendeln erlaubt. Wohl aber so, dass Carsten und Linda die Nähe zur Großstadt fühlen. Ein neues Wort wird platziert: „Speck­würfel“ statt Speck­gürtel würden entstehen. Urbane Speck­würfel der Hoffnung.

Je weiter wir uns von der Berlin entfernen, desto mehr Menschen steigen aus dem Bähnchen aus. In Storkow hält es so lange, dass ein Raucher bequem aussteigen und eine rauchen kann. Die Bahn muss hier, weil die Strecke eingleisig ist, auf den Zug aus der Gegen­rich­tung warten. Einmal habe ich miterlebt, wie eine Schaff­nerin dem Schaffner des Gegenzugs ein Fahrrad herüber­reichte, das jemand im Abteil vergessen hatte und das nun mit dem Gegenzug wieder eine Station zurück­fahren sollte. Beide Schaffner kannten das Rad und seine Besit­zerin. Es war ein schönes Rad, und ich freute mich.

Auch ich steige aus, vertrete mir die Beine und erwische mich dabei, wie ich auski­lo­me­tere, ob wir hier noch zur „Metro­po­len­re­gion“ gehören. Wir sind drinnen, stellt sich heraus. Glück gehabt! Ich versuche, die Bilder, die bei der Lektüre entstanden sind, mit dem überein­zu­bringen, was ich sehe. Der Storkower Bahnhof liegt nicht im Ortskern. Am Bahnstei­gende wächst Krautiges. Drei nicht ganz schlanke Jugend­liche stehen herum und essen aus einer Chipstüte. Ein schönes Bahnhofs­ge­bäude gibt es, stattlich aus roten Klinkern mit grünen Schmuck­steinen, sogar mit einer Bahnhofs­gast­stätte. Aber beides wirkt leer. Ich bin nicht sicher, ob es Carsten und Linda hier gefallen würde. Weil ich Zeit habe, umrunde ich den Bahnhof und klopfe ab, ob er Poten­ziale hätte, ihnen zu gefallen. Ich eröffne die Bahnhofs­gast­stätte und richte sie im Brook­lyn­stil ein. Schon von weitem ist jetzt der warmen Schein nackter Glühbirnen zu sehen. Dann stelle ich die Jugend­li­chen beiseite und gestalte die Terrasse mit Sitzge­le­gen­heiten aus Europaletten. Ich zäune ein Stück Brache ein und stelle Alpakas drauf. Dann muss ich lachen. Stehe auf dem Storkower Bahnhof und lache wie jemand, der nicht alle beisammen hat. Die Schaff­nerin winkt mir. Sie weiß, dass ich in das Bähnchen gehöre, in dem noch mein Rucksack liegt und die zerfled­derte Zeit. Sie würde mich nicht hier stehen lassen.

Zugeben, der Storkower Bahnhof könnte mehr Leben vertragen. Die Jugend­li­chen könnten etwas gesün­deres essen als Chips. Nicht alles, was die Menschen aus Zeit-Geschichte mögen könnten, muss so bizarr sein wie die Storkower Bahnhofs­gast­stätte im Brook­lyn­stil. Die Europaletten waren schließ­lich meine Idee. Carsten kann nichts dafür. Und selbst wenn es so wäre. Sollten wir nicht dankbar sein für alles, was hier ein bisschen Schwung herein bringt?

Mein Befremden, wenn ich mit meinem Wir-ziehen-aufs-Land-Artikel im Kopf auf den Storkower Bahnhof herum­schlen­dere, ist ein anderes. Es betrifft das „Wir“, um das es geht. Wer ist gemeint, wenn Planer von Zukunft sprechen? Wer ist Gestal­tender? Und wer nicht? Aus wessen Lebens­er­fah­rung heraus wird diese Zukunft gedacht? Wer findet Ideen und Formen für sie?

Ganz gleich welche Studie zur ländli­chen Entwick­lung ich lese, immer ist von vornherein gesetzt, dass die Zuwächse aus den Metro­polen ein Segen, vielleicht sogar die einzige Hoffnung seien. Wenn Bevöl­ke­rungs­zahlen schrumpfen – wegen der Spätfolgen des Nachwen­de­ge­bur­ten­knicks, Überal­te­rung oder weil junge Leute zum Studieren wegziehen – ist das verständ­lich. Aber darum allein geht es in den Szenarien nicht. Die Szenarien sind normativ. Sie nehmen Setzung eine vor, was zukunfts­wei­send, was gestrig ist. Was vital, was im Rückzug begriffen. Seit man einer ganzen Genera­tion von Planern einbläute, dem ländli­chen Braindrain sei mit endogenen Ressourcen nicht beizu­kommen, Chancen habe das Land erst durch Impulse von außen, scheint die Frage, wer Akteur und wer Statist ist, entschieden zu sein. Erst waren es „Raumpio­niere“, die Risiko­freude, Innova­tion und Netzwerke bringen sollten. Dazu Geschmack, Slow Food und Sinn für Kultur. Jetzt sind es Wissens­ar­beiter, Digital­no­maden und Leute in Zukunfts­be­rufen, im Gepäck wieder das Verspre­chen, „Vorreiter“ zu sein.

Wer den ländli­chen Alltag kennt, weiß, wie relativ all das ist. Es gibt Dörfer wie Gerswalde in der Uckermark, wo „Raumpio­niere“ oder eben Zuzügler mit typischen Städter­ideen eine  ganz große Rolle spielen. So dass neue Dinge, neue Restau­rants, neue Kultur und auch neue Probleme entstehen. Es gibt ein paar weitere Orte, an denen es ähnlich ist. Es gibt mehrere Projekte, die mit großen Gruppen große aufge­las­sene Liegen­schaften bespielen – mit Coworking Spaces, Seminar­häu­sern und ähnlichem. Aber das sind Punkte in der Landschaft, wenn man ehrlich ist.

In der Fläche prägen völlig andere Struk­turen das Leben. Mit Fläche meine ich –  hunderte von Orten, die nicht neue „Urbane Dörfer“ oder Gerswalde sind. Die Haupt­geige spielen dort nach wie vor stink­nor­male Arbeits­plätze im Einzel­handel, Handwerk, Pflege und Medizin, in der Verwal­tung oder auf dem Bau. Es gibt Kultur­ver­eine in den Landstädten. Albani­sche Pizzerien, für die wir dankbar sind. Und auf den Dörfern halten Feuer­wehren und zahllose Vereine das soziale Leben am Laufen. Von Feuer­lö­schen bis Feste­feiern. Was sie leisten, ist bemer­kens­wert. Begriffen habe ich das erst, als ich selbst Teil der Sache wurde. In unserem Dorf, das nur 180 Einwohner hat, haben eine Handvoll Menschen aus eigener Kraft ein altes LPG-Gebäude renoviert und unter­halten dort einen Ort, an dem das öffent­liche Leben statt­findet. Das Ganze sieht sehr selbst­ge­macht aus. Aber ohne beson­deren Stil. Die Quali­täten sind andere. Es sind Verbind­lich­keit, Nähe, gegen­sei­tige Hilfe und Inklusion. Jeder, der im Dorf wohnt, kann teilnehmen. Egal, welchen Bildungs­stand, welchen Kleidungs­stil, welche weltan­schau­liche Orien­tie­rung er mitbringt. Eine unaus­ge­spro­chene Verab­re­dung ist, dass es so sein muss, weil der Pool an verfüg­baren Menschen begrenzt ist. Als mir beim Oster­feuer ein junger Feuer­wehr­mann mit sehr kurzen Haaren sagte, dass wenn ich später in meiner Küche mal umkippen sollte, höchst­wahr­schein er mit von der Partie sei, meine Tür aufzu­bre­chen und mich zum Arzt zu fahren, habe ich auf brachiale Art verstanden, was gemeint ist.

Ich erzähle das Ganze nicht, um eine Posse anzubringen. Sondern weil ich sagen will, dass es auf dem Land ein Kultur und Praxis gibt, diese Struk­turen zu unter­halten, die sehr wichtig sind. Vielleicht bräuchte man nicht über sie zu reden, wenn sie selbst­ver­ständ­lich wären. Aber ich fürchte, das ist es nicht. Denn zwar sind sie bemer­kens­wert vital. Aber sie sind auch verwundbar. Sie verlangen den Menschen viel ab. An Zeit, Toleranz und Bereit­schaft, Verant­wor­tung zu übernehmen.

Wenn man für das Leben auf dem Land etwas hoffen muss, ist es, dass es diese Landkultur schafft, sich weiter­zu­ent­wi­ckeln. Bevöl­ke­rungs­ent­wick­lungs­in­sti­tute, die über Zukunft reden, müssen über dieses Können zu sprechen. Denn es wird dringend gebraucht. Überall auf dem Land, und nicht nur an beson­deren Orten. Es wäre es nötig, den Leuten eine Portion Anerken­nung, Respekt und vor allem auch handfester Unter­stüt­zung unter den Arsch zu schippen. Statt dauernd Leitbilder zu verbreiten, die ihnen implizit vermit­telt, sie seien nichts und hätten alles falsch gemacht.

Während das Bähnchen durchs Abendblau fährt, einge­hüllt in die Feuchte, die aus dem Waldstück aufsteigt, das wir gerade queren, inter­es­siert weder den Waldkauz noch den Fuchs noch mich, dass wir wahrschein­lich gerade jetzt die Metro­po­len­re­gion verlassen. Auch die Jugend­li­chen nicht, von denen ich inzwi­schen schon eine Menge weiß. Welche Mädchen sie doof finden, welchen Alkohol man seinlassen sollte und dass sie ins nächste Städtchen fahren. Die keine Metropole ist – aber eben schon eine kleine Stadt. Neben mir auf dem Sitz liegt immer noch die Zeit, und ich denke an das Fenster­brett im Kreuz­berger Treppen­auf­gang. Und wie immer, wenn wir durch dieses Waldstück fahren, kommt mir Berlin und das große Altbau­haus mit unseren Nachbarn, die dort ihre abgelegten Sachen hinter­lassen, sehr weit weg vor. Und das liegt nicht nur an den Kilome­tern, die zwischen uns liegen.

Ich denke an die Jacke, die ich einge­steckt habe. Sie sieht wirklich gut aus. Ich brauche auch dringend eine Jacke. Aber ich werde sie trotzdem zurück­legen. Denn sie passt einfach nicht zu mir. Ich muss mir eine besorgen, die zu mir passt.

Erschienen im Blog OderAma­zonas - 16.12.2020