Mit den Indianern fühlen

Warum die Ost Branden­burger mit den Nordame­ri­ka­nern nichts zu tun haben – schon rein genetisch nicht

Vor einer Weile saßen wir bei einer Nachbars­fa­milie auf der Terrasse bei Kaffee und selbst­ge­ba­ckenem Butter­streu­sel­ku­chen und sprachen über Amerika. Über soziale Verwer­fungen, sicher­heits­po­li­ti­sche Verfeh­lungen und Entglei­sungen eines Präsi­denten mit schlimmer Frisur. Und wie immer, wenn man in Ostbran­den­burg an einer Kaffee­tafel sitzt und an Amerika herum­me­ckert, hat man das Bedürfnis, auch etwas Positives dagegen­zu­setzen. Was hat uns Amerika nicht auch alles gebracht? Den Kaffee­papp­be­cher. Den SUV. Die Netflix­se­rien. Na bitte.

Es wäre ein netter Nachmittag gewesen – aber ohne großen geistigen Ertrag –, hätte die Hausherrin, – ich nenne sie hier Heike, – nicht plötzlich gesagt: „Ich halte das alles für Quatsch.“ – „Meinst du die Netflix­se­rien?“, hakt jemand nach. – „Nö“, entgegnet sie. „Ich meine die Behaup­tung unserer Nähe zu Amerika.“ Schweigen. Abwarten, was sie anbringen will. „Ich meine, wir haben mit den Ameri­ka­nern rein gar nichts zu tun. Und zwar – schon rein genetisch nicht,“ tut sie uns den Gefallen, das Ganze auf den Punkt zu bringen.

Na aber! Die Töchter der Hausherrin kontern: „Die deutschen Einwan­derer. Henry Kissinger. Eisen­hower. Goldmann und Sachs.“ Ich mache mich mit meinen Vorfahren wichtig, die in mütter­li­cher Linie urgroß­müt­ter­li­cher­seits bei Posen

wohnten und in den schweren Zeiten alle in die Neue Welt auswan­derten. Um ein Haar hätte es mich gar nicht gegeben, wäre nicht mein Urgroß­vater Paul Strek Eisen­bahner gewesen und hätte in letzter Sekunde entschieden, doch lieber zu Hause und im Staats­dienst zu bleiben. Wegen der Sicher­heit. Und weil er Sozial­de­mo­krat war. Nur so konnten seine Gene hier in der alten Welt an mich weiter­ge­geben werden. Und so liege ja auf der Hand, sage ich, wie eindeutig Heike von mir argumen­tativ bezwungen sei. Ich komme ins Faseln, und die Hausherrin unter­bricht mich freund­lich, bevor ich noch zu Ende erzählen kann, wie mein ameri­ka­ni­scher Urgroß­onkel sich jünger log, um nochmal zur See fahren zu können, obwohl er nicht einmal schwimmen konnte. Und dass er Zeit seines Lebens Fan des deutschen Kaisers blieb. Dass seine Liebe zu Deutsch­land einen neuen Schub bekam, als er schon 98 Jahre alt war, und wie er dann dauernd zu uns geflogen kam, um mit uns deutsche Schre­ber­gärten zu besich­tigten. Und … „Eben“, fasst die Hausherrin zusammen. – „Was ‚eben‘?“ gebe ich beleidigt zurück. „Sie sind ausge­wan­dert“, entgegnet sie bestimmt. „Alle. Bis auf deinen Uropa, der wegen der Sicher­heit zu Hause geblieben ist. Aber alle, die das Gen des Wagemuts in sich hatten und sich bewegen wollten, um ihre Situation zu verbes­sern, sind nach Amerika gegangen. Hier geblieben sind die, die dieses Gen nicht haben. Und deshalb sind die Ameri­kaner und wir genetisch heute etwas völlig anderes.“ Zufrieden setzt sie sich einen großen Klacks Schlag­sahne auf den Teller. Und in die Stille hinein, die entstanden ist, setzt sie noch einen drauf: „Wenn wir mit jemandem was zu tun haben, dann sind das die Indianer. Die sind nämlich immer dageblieben. Haben nicht gefragt, ob es ihnen passt oder ob ihnen die Tauben ins Maul fliegen. Oder ob es anderswo besser wäre. Nie. Haben sich immer mit dem abgefunden, was es bei ihnen zuhause gab. So wie wir.“

Mir ist plötzlich völlig klar, wie recht sie hat. Meinem Mann auch, das sehe ich. Wir mampfen den guten Butter­streu­sel­ku­chen, während sich die Sonne langsam über Ostbran­den­burg neigt, und fühlen mit den Indianern.

Erschienen im Blog OderAma­zonas - 20. September 2020