Ortsbild­stö­rend

Warum müssen Dörfer, um reizvoll zu sein, immer ein möglichst geschlos­senes Ortsbild aus der Zeit von vor 1945 vorweisen?

Vor vielen Jahren war ich mit einer Gruppe von Öster­rei­chern in der Bukowina unterwegs. Das ist eine Provinz in der westli­chen Ukraine, die von Ende des 18. Jahrhun­derts bis zum Ersten Weltkrieg unter Habsbur­gi­scher Herrschaft stand, danach war sie kurz rumänisch und dann sowje­tisch. Nach den 1990ern waren besonders öster­rei­chi­sche Touristen faszi­niert von ihr. Aller­dings beschränkte sich die Begeis­te­rung meist auf die Städte mit ihren stuck­ver­zierten Häusern, die unzwei­fel­haft nach K&K aussehen. Mit der Gruppe von Öster­rei­chern war ich auf dem Land unterwegs. Wir fuhren in einem Kleinbus herum, besich­tigten alles Mögliche und hatten eine Menge Spaß.

Gegen Abend saßen wir auf einer Anhöhe auf einem Mäuerchen und blickten auf die Dächer eines Dorfs, das unter uns im Tal des Dnjestr lag. Es gab eine bunte orthodoxe Kirche, eine Reihe einstö­ckige für die Gegend typische Bauern­häuser mit Blech­dä­chern, ein paar Sommer­häuser aus Sowjet­zeiten und eine Handvoll grau verputzter Zweck­bauten. Kurz – ein gewöhn­li­ches Dorf in der Bukowina. Die Öster­rei­cher waren zum ersten Mal in der Ukraine. Während eine Tüte mit Knabber­zeug herumging, bemerkten, dieses Dorf sei „schiach“. Das Wort „schiach“ kannte ich schon. Es heißt so viel wie hässlich. Schiach sei das Dorf, weil es hier zu viele Blech­dä­cher gebe. Zu viel Rauputz, zu viel Wellblech und Teerpappe. Auf der anderen Seite zu wenige alte und schöne Gebäude. Und überhaupt: zu viel Durch­ein­ander. Diese Garagen und alles. Insgesamt: schiach.

Nicht lange vorher war ich in einem ganz ähnlichen Dorf gewesen und hatte einen Lehrer inter­viewt, der zugleich Schmied war, eine Landwirt­schaft betrieb und drei kleine Töchter hatte. Weil der Lehrer so wenig Zeit hatte, führten wir das Interview, während er nebenbei seinen vielen Arbeiten nachging. Er bewohnte ein solches Bauern­haus mit Blechdach. Es war weit über hundert Jahre alt, wie er mir erzählte. Vor ihm hatten es seine Eltern, davor seine Großel­tern und noch davor seine Urgroß­el­tern bewohnt. Das Blechdach besaß es – wie alle anderen Häuser dieses Typs – schon seit den Tagen der öster­rei­chi­schen Herrschaft. Ein guter Teil der Zeit und Findig­keit des Lehrers ging dabei drauf, sein Haus in Ordnung zu halten. Das Blechdach, darauf war er stolz, konnte er selbst reparieren, weil er das Handwerk beherrschte. Aber nicht allen Bewohnern dieser Art von Häusern gelang das so gut. Manche werkelten selbst, wenn sie keinen Schmied kannten, und sie nahmen Wellblech, wenn kein besseres Material zur Hand war. Deswegen sah am Ende nicht immer alles so aus, wie wir uns roman­ti­sche Bauern­häuser vorstellen. Nach einer Weile bekam ich einen Blick für diese Dörfer, erkannte ihre Bauformen besser, auch dann, wenn inzwi­schen Wellblech, Garagen und alles Mögliche hinzu­ge­kommen war. Ich mochten sie. Was mich aber am meisten beein­druckte, war das Geschick der Leute, mit dem Mangel umzugehen. Die Impro­vi­sa­tionen gehörten insofern zum Ortsbild dazu.

Ich versuchte, den Öster­rei­chern zu erklären, dass die Häuser, die sie für alt hielten, relativ neue Ferien­häuser waren, die Blech­dach­häuser seien dagegen alt. Ich erzählte ihnen auch, dass ihre Bewohner von einer Kaskade von Wirtschafts­krisen gebeutelt seien, und dass es sie viel Mühe kostete, allein dafür zu sorgen, dass es nicht herein­reg­nete. Ich redete, und hörte auch bald wieder auf zu reden. Einer­seits, weil mir die Rolle als selbst­er­nannte Bauhis­to­ri­kerin nicht gefiel, vor allem aber, weil meine Ausfüh­rungen die Öster­rei­cher nicht sonder­lich inter­es­sierten. Sie fingen an, mir auf die Nerven zu gehen, wie sie so auf dieser Anhöhe saßen, auf das Dorf herab­schauten, von dem sie rein gar nichts verstanden und ihre Katego­rien lieb (schön) und schiach anwandten. Während sie ihr Knabber­zeug aßen, fingen sie an ein Spiel zu spielen, bei dem alle schiachen Gebäude mit einem imagi­nierten Laser­schwert zerstört werden mussten. Dabei fanden sie sich ziemlich komisch.

An die Szene am Dnjestr musste ich im letzten Sommer denken. Es war in einem ganz anderen Dorf. Nämlich in Ostbran­den­burg bei Beeskow, wo wir unser Haus gekauft haben. Manchmal habe ich das dringende Gefühl, auch diese Gegend ist für die westli­cheren Deutschen eine Besied­lung weit im Osten, der man eventuell ein Quäntchen der eigenen Zivili­sa­tion mitbringen könnte. Nur, dass der Blick darauf weniger liebevoll ist. An jenem Tag im Sommer besuchte uns dort eine Freundin von mir. Sie hatte ihr Auto geparkt, stieg aus, schaute sich um, und bemerkte, das hier sei ja hier fast ein schönes Dorf. Gemessen an dem, was man in dieser Gegend erwarten kann.

Mir kippte fast die Kinnlade runter. Wir standen auf dem Gehweg vor unserem schmie­de­ei­sernen Garten­zaun aus DDR-Zeiten, den jemand vor uns knall­orange gestri­chen hat. Dahinter ist unser Haus zu sehen, das zwar alt ist, dem aber ein gelber Rauputz und eine Veranda – vermut­lich aus den 1970ern – ein zweifel­haftes Antlitz verleihen. Daneben steht das Haus des Ortsvor­ste­hers, ein DDR-Typenbau. Die meisten unserer Gäste schweigen höflich, wenn sie zum ersten Mal kommen und das sehen. Der Punkt war: Meine Freundin guckte in die andere Richtung. Ich folgte ihren Augen, und richtig: Wenn man mit dem Rücken zu unserem Gartentor steht und über den Anger blickt, sieht dieser Ausschnitt des Dorfs fast idyllisch aus. Ein grasbe­wach­sener Anger mit einem kleinen Fließ in der Mitte. Auf der anderen Anger­seite ein ansehn­li­ches Klinker­haus mit Schau­fas­sade. Vor über hundert Jahren hat es ein wohlha­bender Bauun­ter­nehmer errichtet, deshalb war es wohl haltbarer, als eine Reihe anderer alter Häuser im Dorf, die inzwi­schen abgerissen sind. Davor steht sogar noch ein Stück erhal­tener Feldstein­mauer. Hübsch, bemerkte meine Freundin. Erfreut über das unver­diente Lob, blickte ich mit meiner Freundin zusammen möglichst lange in genau diese Richtung. Bis ich das Gartentor öffnete und sie in unsere schiache Veranda bat.

Als ich darüber nachdachte, merkte ich, dass mich diese ästhe­ti­schen Urteile nicht kalt lassen. Als sie das Dorfbild lobte, freute ich mich wie ein Kind, dem jemand ein Eis gekauft hat. Sicher war ich auch froh, dass sie das Laser­schwert stecken ließ, mit dem unsere meisten Gäste dann doch irgend­wann den Gehweg, das Haus des Ortsvor­ste­hers, unseren Zaun und die Veranda traktieren. Wenn dazu nichts gesagt wird, kann es vorkommen, dass ich selbst etwas sage. Etwas Entschul­di­gendes. Zumindest etwas, das klar macht, dass natürlich auch ich sehe, dass unser Haus im Kern ein altes Büdner­haus ist und später jemand seine Kubatur durch den Anbau der hässli­chen Veranda verun­staltet hat. Und dass der Gehweg vor unserem Zaun das ganze Ortsbild verändert hat. Wir haben nämlich alte Fotos gesehen, auf denen dort statt­dessen noch ein Sandweg war. Man nannte das „Sommerweg“. Neben dem Kopfstein­pflaster in der Straßen­mitte hat es in fast allen Branden­burger Dörfern diesen unbefes­tigten Streifen Sand gegeben. Den Sommerweg und das Kopfstein­pflaster säumten zwei Reihen Linden.

Wenn ich so rede, habe ich zugleich ein schlechtes Gewissen. Ich kenne nämlich die frühere Bürger­meis­terin unseres Dorfs. Sie ist eine ältere Dame, die fit wie ein Turnschuh ist und mit der ich manchmal spazieren gehe. Wenn der Weg aufhört, steigt sie über Baumwur­zeln und Brombeer­ranken. „Weg ist Weg“, sagt sie, wenn ich mich darüber beschwere. Diese wackere Lady hat die Zeiten mitge­macht, als man in unserem noch kriegs­ge­beu­telten Dorf froh über jede Neuerung war. Als sie Bürger­meis­terin wurde, waren die Straßen, an denen die Neubau­ern­häuser standen, noch unbefes­tigt, und wenn es matschig war, konnte man nicht zu den Höfen hin fahren. Es gab noch keine Wasser­lei­tung, nur Brunnen. In meinen Ohren hört sich das roman­tisch an. Aber weil das Dorf vergleichs­weise hoch oben liegt, fielen die Brunnen im Hochsommer öfter trocken. Und das war dann überhaupt kein Witz mehr. Ich glaube, von der Armut unseres Dorfs mache ich mir immer noch keine Vorstel­lung. Die alte Bürger­meis­terin jeden­falls machte möglich, dass das Dorf eine befes­tigte Straße bekam. Die Gehweg­platten vor unserem Zaun verlegten Rentner in Eigen­ar­beit. Die Bürger­meis­terin ist heute noch stolz darauf. Nicht weniger stolz ist sie auf die Straßen­be­leuch­tung und den Anschluss auch der letzten Neubau­ern­häuser an die Wasser­ver­sor­gung. Sie erzählt vom Wohlstand ab den Siebzi­gern, als die LPG besser wirtschaf­tete. Weil es die Genos­sen­schaften gab, konnte sie Buchhal­terin werden – statt arme Bäuerin, was andern­falls ihr vorge­zeich­neter Weg gewesen wäre. Alles, was neu im Dorf ist, steht für sie für Verbes­se­rung. Altes verbindet sie mit Mangel, mit Not und der Nazizeit. Ihre Augen leuchten, wenn sie erzählt, mit welcher Wonne sie damals den alten Plunder wegwarfen und sich über alles freuten, was sie neu geschaffen hatten. Wenn ich ihr erzähle, dass wir unsere „neue“ Veranda wegreißen wollen und bei einem Tischler eine massive Holztür anfer­tigen lassen – so wie man sie früher hatte – guckt sie mich ungläubig an.

Offenbar wird heute alles, was diese Genera­tion geschaffen hat, um Not zu überwinden, als hässlich empfunden. In den Neunziger Jahren haben Landschafts­planer für unser Dorf ein Gutachten erstellt. „Dorfer­neue­rung“ heißt es. Unser heutiger Ortsvor­steher, der es seiner­zeit selbst in Auftrag gegeben hatte, hat es uns einmal gezeigt. Es ist ein Rundgang durchs Dorf, von jedem Haus gibt es eine Fotografie, dazu eine Bewertung und Handlungs­emp­feh­lung. Das Ergebnis war wenig überra­schend. Ein paar wenige Bienchen vergaben die Landschafts­planer für die zwei bis drei Gebäude, deren äußere Gestalt halbwegs dem Vorkriegs­zu­stand entspricht. Darüber hinaus gingen sie ähnlich vor wie meine Öster­rei­cher in der Ukraine mit ihrem Laser­schwert. Das Haus des Ortsvor­ste­hers wurde mit der kurzen Bemerkung „ortsbild­stö­rend“ vernichtet. Er lachte darüber herzlich, als hätte jemand einen guten Witz gemacht. Aber sicher bin ich nicht, ob es ihm seiner­zeit nicht im Hals stecken blieb. Denn von den tausend Geschichten, die er stets erzählt, handeln mindes­tens hundert davon, wie er Ende der Achtziger Jahre, als es in der DDR fast keine Bauma­te­rialen gab, allem zum Trotz sein Haus gebaut hat. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass auch die Erfolge des Dorfs in Landwirt­schaft und Straßenbau nicht den Beifall der Landschafts­planer fanden. Auch den „Dorfclub“ mochten sie nicht, eine LPG-Schlosserei, die die Dorfbe­wohner selbst zum Tanzsaal mit Bar und Bühne umgebaut haben.

Ich weiß zu wenig über all die Ansätze, Ortsbilder von Dörfern zu beurteilen und in Wert zu setzen. Aber seit ich selbst an einem alten Haus baue, das Teil eines Dorfs ist, höre ich mit anderen Ohren zu, wenn über Dörfer gespro­chen wird. Dabei fällt mir auf, dass es bei Dörfern – anders als bei Städten – fast nie das Dorf selbst ist, das sich beschreibt und entscheidet, welche Dinge es sind, die es ausmachen. Statt­dessen ist meistens eine Instanz von außen. Die Landschafts­pla­nung. Der Denkmal­schutz. Touris­ti­sche Inter­essen. Das führt zu einer gewissen Distanz. Der Vergleich mag absurd klingen, aber Berlin beispiels­weise wird selbst­ver­ständ­lich zugestanden, selbst zu benennen, was diese Stadt zu dem macht, was sie ist. Bezie­hungs­weise ist es eine Fülle von Selbst­be­schrei­bungen und Fremd­be­schrei­bungen, die sich anein­ander brechen. Viel wichtiger als das gebaute Berlin, sind dabei die sozialen und kultu­rellen Dimen­sionen, die sich in die Stadt einschreiben. Es gibt das preußi­sche Berlin, das Clubberlin, das Hipster­berlin, das echte Berlin, das Berlin der Berliner, das Business­berlin und so weiter. Der Stadt wird erlaubt, sich als stets werdendes Gebilde zu verstehen, das gerade auch von der Erzählung seiner Brüche lebt. Die Notbauten der Nachkriegs­zeit sind Gegen­stand von Stadt­füh­rungen. Und mit fast voyeu­ris­ti­scher Neugier erkunden Besucher die Nachnut­zungen alter Indus­trie­bauten zu Clubs, wo alle begeis­tert feiern. Im Dorf bekommen die Impro­vi­sa­tionen der Nachkriegs­zeit das Prädikat „ortsbild­stö­rend“. Wie sich das Dorf nach 1945 ins Ortsbild einge­schrieben hat, wird – wenn überhaupt – als Unfall betrachtet.

Warum müssen Dörfer, um reizvoll zu sein, immer ein möglichst geschlos­senes Ortsbild aus der Zeit von vor 1945 vorweisen? Man möchte mich nicht falsch verstehen. Nach allem, was die ostbran­den­bur­gi­schen Dörfer verloren haben, soll man natürlich erhalten, was an älterer Substanz noch da ist. Traurig genug, dass das so oft misslingt.

Aber woher der Ekel vor allem Neueren? Warum gelten die Leistungen des Dorfs nicht, Armut überwunden zu haben? Oder das Leben in den Orten wieder auf die Beine gebracht zu haben? In der Nachkriegs­zeit oder in den Neunziger Jahren? Warum dürfen Dörfer, anders als Städte, sich nicht mit dem Leben seiner Menschen entwi­ckeln? Mit allen Brüchen, allen Häutungen und Wider­sprü­chen, die dazuge­hören?

Erschienen im Blog OderAma­zonas - 11. März 2021