Äpfel klauen

Der Herbst ist nicht golden, sondern rot. Apfelrot. Er riecht nach Äpfeln. Er schmeckt nach Apfel­säure im Gaumen. Bestimmt gibt es ein Volk, das allein fünf Wörter kennt für “satt von Äpfeln“. Und sicher­lich feiert man irgendwo den Herbst mit einer rituellen Apfel­völ­lerei. Auch drei meiner Freunde pflegen einen Apfel­ritus: Markus, Titus und Karl.

„Das ist bekloppt”, sage ich noch zu Karl. „Nur weil ihr das immermacht, heißt das nicht, dass es irgend­einen Sinn ergibt. Wir wohnen nicht in Stuttgart, wo die Streu­obst­wiesen hinter dem Haus anfangen.“ – „Westkind“, sagt Karl. „Karl, wir fahren jetzt zwei Stunden lang, um wurmsti­chige Äpfel einzu­sam­meln, von denen du dir den Magen verdirbst.“ – „Super­markt­äpfel sind Scheiße“, sagt Karl und fördert Taschen und Körbe aus entle­genen Winkeln unserer Wohnung zu Tage. „Im Osten gab´s immer gute, natür­liche Äpfel“, fügt er hinzu und meint, dass die Diskus­sion beendet ist. Markus kommt gleich. Es ist, wie ein Ritus sein muss: Es bedarf keiner Gründe, Zweifel sind fehl am Platz. Die Türglocke summt. Markus und Titus stehen da, strahlen ein Sieger­lä­cheln, Mensch Karl! Sie haben Karl nicht mehr gesehen, seit sie zum letzten Mal „raus” gefahren sind. Sie nennen sich “alte Freunde”, und vielleicht zeichnet es alte Freunde aus, dass sie, ohne Schaden zu nehmen, ein Jahr lang in derselben Stadt leben können, ohne sich zu sehen. Und sich dann umarmen, als seien sie sich das Kostbarste der Welt, wenn das alljähr­liche Äpfel­klauen sie zusam­men­führt. Markus umarmt Karl. Karl umarmt Titus. Markus und Titus haben sich schon umarmt. Ich werde umarmt. Es geht los.

Markus hat „die Kiste“ seiner Eltern bekommen, eine Honda, Zweitürer. „Cool von deinen Eltern.“ sagt Karl. Und dann fahren wir. Die Frank­furter Allee im Sonntag­vor­mit­tags­schlaf, die Platten­bauten von Lichten­berg. Das Autofahren durch Berlin, stur geradeaus auf einer Ausfall­straße, verbinde ich mit Ausflügen in die Natur. Obi-Baumärkte fliegen vorbei, das Gespräch ist beiläufig wie am Kamin, und wenn die Natur dann ins Blickfeld gerät, hat man fast schon vergessen, was man dort wollte. Allee­bäume zu beiden Seiten, irgend­wann Wiesen. Nur keine Äpfel. Nirgends. Wir biegen in einen Feldweg und in einen weiteren. Die Äcker sind braun, Schwärme kleiner Vögel fliegen auf und bilden Zick-Zack-Formationen. Wir steigen aus und sehen den Vögeln zu. Titus macht ein Foto. „Wir brauchen Äpfel.“ sagt Karl. Wir fahren wieder. Äcker, Vogel­schwärme. Die Sache beginnt, mir zu gefallen, da tauchen zu beiden Seiten Berge beige­far­bener Knollen auf. Markus bremst, die Autotüren klappen, wir besteigen den Knollen­berg, der sich längs des Weges wie eine gigan­ti­sche Düne erstreckt. Karl bückt sich, sagt fachmän­nisch “Zucker­rüben” und schneidet mit dem Taschen­messer dicke Stücke ab, die wir der Reihe nach kosten dürfen. Man könne Suppe davon kochen, russische Suppe, mit Pasti­naken und Kwas. Wir essen und atmen die Landluft, die nach Dung oder Zucker­rüben riecht, stapeln einige Kilo Rüben in den Koffer­raum, und weiter rumpelt die „Kiste“ über den Beton­plat­tenweg, kilome­ter­weit an Knollen­bergen entlang. Wir erreichen ein Dorf namens „Zucker­fa­brik”. Durch­queren es. Pflücken saure Birnen vor einem vermeint­lich verlas­senen Haus, ein Besitzer tobt, seine Birnen hätten, um süß zu werden, noch den ersten Frost gebraucht. Ernten Holun­der­beeren, Karl will im Internet gucken, wie man Holun­der­saft macht. Wir sammeln seltsame weiße Pilze, die an Penisse erinnern. „Schopftint­linge“ sagt Karl. Dann fahren wir wieder. Markus begleitet mit Kopfstimme einen Song im Radio.

Dann. Markus bremst scharf. Äpfel! Es sind dicke Äpfel. Rot. Ich beginne zu begreifen, wie ein Jäger sich fühlen muss, wenn er nach langem, erfolg­losem Streifzug durch den Wald einen Hasen vor die Flinte kriegt. Markus lächelt, entrückt. Titus hebt einen Apfel vom Boden auf, beißt hinein, sagt “geil” und meint, dass wir diese, genau diese Äpfel haben müssen. Titus reckt sich. Zu hoch. Karl macht mir die Räuber­leiter, es hilft nicht. Markus springt, er erreicht ein Blatt. „Wieso haben wir keinen Apfel­käscher?“ frage ich. „Haben wir halt nicht“, sagt Karl und sieht Markus hinterher, der losge­rannt ist. Er fährt die „Kiste” seiner Eltern vor, zieht die Schuhe aus und steigt auf das Auto, vorsichtig auf dem Rahmen balan­cie­rend, damit das Blech keinen Schaden nimmt. „Besessen“, denke ich, als er beginnt, an einem dicken Ast zu rütteln. Die Äpfel schlagen Dellen in das Autodach, und ich hoffe, dass Markus Eltern so cool sind, wie Karl vermutet hat. Markus sagt nur: „Holt eine Decke aus dem Koffer­raum.“ Wir müssen die Decke wie ein Sprung­tuch halten, Markus schüttelt, wir fangen die Beute.

Auf der Rückfahrt kauen wir Äpfel. Alte Freunde. Markus, Titus, Karl und ich.

Erschienen in der Freitag- 19. Oktober 2007