Lieber Otto, es ist für dich

Das System zwang ihn dazu.

Einmal, als der Kaiser durch Berlin fuhr und eine begeis­terte Menge jubelnd ihre Hüte in die Luft warf, schleu­derte Otto Kuhl seinen alten, verschlis­senen von sich, um, einen neuen, viel schöneren wieder aufzu­fangen. So zumindest erzählte er es. “Das System zwingt dir dazu”, setzte er sich gleich ins Recht. Das System zwang ihn auch, stets einen Hemdkragen mitgehen zu lassen, wenn er ein Kurzwa­ren­ge­schäft betrat. Keiner nahm es ihm übel. Die Patina der Zeit tauchte seine kleinen Delikte in ein versöhn­li­ches Licht. Kuhl war weit über neunzig und hatte sämtliche seiner Verwandten und Bekannten überlebt. Er wohnte im selben Haus wie ich, und als wir uns im Hausflur eine halbe Stunde lang unter­hielten, war das sein erstes längeres Gespräch seit Jahren. In jenem unsanierten Mietshaus in Berlin-Friedrichshain wohnten damals etwa ein Dutzend Freunde von mir, und wir luden Herrn Kuhl bald öfter zum Abend­essen ein. Dann saß er bei Buletten und Bier, bekam rote Wangen und rote Ohren – Kuhl hatte bemer­kens­wert große Ohren – und erzählte von längst verstor­benen Vormie­tern, von Straßen­schlachten, Fritzi Massary und der Nazi-Zeit. Und alle Geschichten, die moralisch nicht einwand­frei waren, schloss er mit: “Das System zwingt dir dazu”.

Um hin und wieder unter Menschen zu kommen, hatte Kuhl es sich zur Gewohn­heit gemacht, an sonnigen Tagen zum nahe gelegenen S-Bahnhof Ostkreuz zu wandern und sich dort auf eine Bank zu setzen. Anfangs verstand ich nicht, weshalb er gerade das Ostkreuz so liebte, denn es war alles andere als ein schöner, beschau­li­cher Ort. Es war ein staub­grauer, zugiger Bahnhof, von Tauben und Menschen bevölkert, die scheinbar sinnlos in der Gegend herum liefen. Überhaupt sah der S-Bahnhof Ostkreuz aus, als sei er ohne Sinn und Verstand gebaut. Ein Gleis, das auf hohen Stelzen im schiefen Winkel quer über die Anlage führte, war nur von einer Seite zu erreichen, weil es auf der anderen einfach keinen Bahnsteig gab. Und die Züge Richtung Alexan­der­platz fuhren mal an diesem, mal an einem anderen Bahnsteig, so dass man immer am falschen Bahnsteig stand und seine Bahn davon fahren sah. Otto Kuhl liebte diesen Bahnhof – all dieser Nachteile zum Trotz. Er hatte ja keine Eile und wollte weder zum Alexan­der­platz fahren noch zum Check-in am Flughafen Schöne­feld. Er mochte es einfach, dieses Gewimmel von Menschen um sich herum zu spüren. Er sagte, er fühle sich darin jung. Dabei war der Ruß, der auf den Stahl­über­füh­rungen und Gleis­brü­cken lagerte, mindes­tens so alt wie Kuhl. So saß er da und sah glücklich und entrückt aus, und vielleicht genoss er den Hauch von Anarchie.

Wenn ich Kuhl auf seinem Lieblings­bahn­steig traf, kniff er die Augen zusammen, überlegte einen Augen­blick, wer ich war und sagte dann: “Die Preise für Kaffee sind schon wieder gestiegen. Hast du´s auch bemerkt? Das hatten wir schon mal. So ist das im Kapita­lismus.” Oder: “Die Kohlen sind schon wieder teurer als im letzten Jahr.” Dann unter­hielten wir uns ein paar Takte lang über die Nachteile unseres Systems und ich stieg in die nächste Bahn Richtung Alexan­der­platz. Ohne Fahrkarte. Das System zwang mich dazu.

Es fiel in diese Zeit – etwa Mitte der neunziger Jahre –, dass von Plänen zu einem gigan­ti­schen Umbau des Ostkreuzes zu lesen war. Berlin befand sich noch im Taumel eupho­ri­scher Wachs­tums­er­war­tung, und es hieß, in allen Himmels­rich­tungen sollten hochmo­derne S-Bahnkreuze entstehen, um die Menschen­massen auf die je richtige Bahn ins Haupt­stadt­zen­trum zu rangieren. Ich beschloss umgehend, in den Wider­stand gegen diese Planung zu gehen. Kuhls seltsamer Bahnhof hatte längst meine Sympathie gewonnen. Wenn man am Morgen nach einer Party im sanften Drogen­rausch am Ostkreuz ankam, konnte man auf selten befah­renen Gleisen wandern und in aufge­ge­bene Bahnge­bäude einsteigen, die von Knöterich überwu­chert waren. Und über allem thronte wie ein Fremder ein alter, dunkler Wasser­turm. Während dieser Exkur­sionen begann ich, den Irrsinn der Konstruk­tion von kreuzenden Überfüh­rungen und Brücken­ge­leisen zu verstehen. Der Plan musste das Kind eines Drogen-Trips gewesen sein.

Kuhl sagte, das Ostkreuz hätten sie schon immer umbauen wollen. Schon zu den Olympi­schen Spielen 1936 hätte das “Rostkreuz” einer neuen Anlage weichen sollen. Auch zu DDR-Zeiten habe man beständig seinen Abriss geplant. Aber immer seien die Planungen geschei­tert. Zu groß. Zu viele Gleise, die man stillegen müsste. Einen Umstei­ge­bahnhof, an dem sich so viele Schienen von Westen nach Osten und von Süden nach Norden kreuzten, könne man nicht einfach schließen und ein Schild “Baustelle” anbringen. Kuhl meinte, wir sollten uns um das Ostkreuz keine Sorgen machen.

Dennoch. Wir gründeten eine Bürger­initia­tive und beschlossen zu kämpfen. Nicht zuletzt, weil die Behörde für Stadt­ent­wick­lung ankün­digte, das gigan­ti­sche neue Kreuz würde unser Viertel zum “City-Kerngebiet” mit entspre­chenden Mieten machen - und wir könnten dann an den Stadtrand ziehen. Wir kämpften also. Indem wir viel Zeit darauf verwandten, akribisch sämtliche Schritte der Planung zu verfolgen, bald hätten wir Kurse für Raumplaner geben können, so gut waren wir geworden, wir trafen uns ständig, tranken größere Mengen Bier und erwogen unsere Möglich­keiten. Nicht, dass wir glaubten, gewinnen zu können. Genau wie dem Ostkreuz haftete unserem Wider­stand etwas Irratio­nales, Paradoxes an. Er atmete diesen Geist der Neunziger-Jahre-Rebellion, der es zustande brachte, ein Zu-Allem-Entschlossen mit postmo­dern heiterer Resigna­tion zu verbinden. Denn was würden wir tatsäch­lich tun, wenn morgen Baubeginn wäre? Würden wir in der Nacht die Strom­kabel kappen? Oder den Kran ansägen? Und ein Beken­ner­schreiben hinter­lassen: “Das System zwingt uns dazu”?

Irgend­wann starb Kuhl. Einer meiner Freunde, Sven, fand ihn, als er ihm die Haare schneiden wollte. Kuhl hatte ihm, “für den Fall, dass mal etwas wäre”, einen Wohnungs­schlüssel gegeben. Nun war etwas. Kuhl lag ausge­streckt auf seinem Bett, hatte aber seinen Nylon­beutel in der Hand, den er immer auf seine kleinen Ausflüge mitnahm. Es sah aus, als hätte er sich gleich auf den Weg gemacht. Und das hatte er ja nun auch. Es war ein fried­li­ches Bild.

Wir fanden in Kuhls kleiner Wohnung Unmengen von Brennholz, das er gesammelt hatte – vermut­lich für den Fall, dass die Kohlen­preise ins Unermess­liche stiegen. Und massen­haft Kaffee­pa­ckungen. Überra­schen­der­weise fanden wir außerdem eine größere Summe Geld. Leider fand sich auch wider Erwarten eine jüngere Schwester, die bereit war, sein Erbe anzutreten. Zur Beerdi­gung kam sie nicht. Nur wir liefen Otto Kuhls Urne nach, die ein Fried­hofs­an­ge­stellter ratternd auf einem Handwagen über einen Schot­terweg zog.

Jahre vergingen nach Kuhls Tod. Und noch immer passierte nichts. Es war enttäu­schend - und eine postmo­derne Erfahrung mehr –, nicht mal besiegt, sondern einfach, ohne Anstren­gung, durch den Lauf der Zeit überrundet worden zu sein. Der überführte all unsere Prognosen als ein Tappen im Nebel. Freilich stiegen im Fried­richs­hain die Mieten. Aber dazu bedurfte es weder eines High-Tech-Schienenkreuzes noch einer Stadt­au­to­bahn. Und freilich zogen wir fort. Aber nicht wegen der Mieten. Und schluss­end­lich, zwölf Jahre später, wurde am Ostkreuz doch gebaut. Und wir waren einfach nicht mehr da.

Kürzlich, am Abend, war ich mit Sven Fried­richs­hain ein Bier trinken. Wir gingen in die Kneipe und danach spazieren. Es kann am Bier gelegen haben oder am Vollmond, aber plötzlich juckte es uns in den Fingern und wir stiegen in die Baustelle ein. Auf Kuhls Bahnsteig lagen die Trümmer einer Treppe, die Bahnhofs­vor­halle, wo früher die Vietna­mesen gestanden hatten, war ein Haufen Bauschutt. Ein riesiger Bohrer steckte tief im Boden des Berliner Urstrom­tals und kündete von den hohen Stelen, die bald hier aufragen würden. Nur der Wasser­turm stand schwarz und erhaben. Auf dem Bahnsteig F wühlte Sven in seinen Hosen­ta­schen, ich wusste schon, was er suchte, und tatsäch­lich begann er, Sekunden später, mit seinem Schweizer Offizier­st­a­schen­messer an dem Metall­schild “Ostkreuz” herum­zu­schrauben. Ich wusste viel zu gut, was er vorhatte,verkniff mir jede Bemerkung und schlen­derte den Bahnsteig auf und ab. So als würde ich ausge­rechnet jetzt, ausge­rechnet hier auf einen Zug warten. Ich überlegte, ob noch Zeit wäre, Kuhl auf seiner Bank guten Tag zu sagen. Sven brauchte mich nicht. Er schraubte und das würde noch ein paar Minuten dauern. Ich stieg eine der provi­so­ri­schen Treppen herunter. Mir war so, als sähe ich auf Kuhls Bank die Umrisse eines gebeugten Kerlchens mit bemer­kens­wert großen Ohren. Als ich näher kam, war es natürlich weg. Nur ein Sandhaufen kauerte da, in dem eine Schaufel steckte. Eine kalte Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich um. Es war Sven, mit seinem Schild unterm Arm.

Wir steckten das Schild in den Sandhaufen. Es blieb nicht gerade drin stecken, sondern sackte immer nach hinten weg. Macht nichts, sagte Sven. Das passt zu uns. Ich fingerte eine Bewir­tungs­qui­tung aus der Hosen­ta­sche. Sven hatte einen Stift. Wir kritzelten „Lieber Otto“ auf die Rückseite. „Das ist für dich. Das System zwang uns dazu.“

Erschienen in der Wochen­zei­tung der Freitag - 20. November 2008

ausge­zeichnet mit dem Journa­lis­ten­preis Bahnhof