Nette Nachbarn

Oder: Krimi­nelle können sehr hilfs­be­reit sein.

Die Tür ist zu. Es hilft nichts, an der Klinke zu rütteln. Es hilft nichts, den Schlüssel ins Schloss zu bohren, denn von innen steckt ein anderer Schlüssel. Nicht schlau. Aber – halb so wild. Die Nachbarn helfen gern. Mit einer Bohrma­schine, auch mal mit einer kleinen Brech­stange.

Das Leihen und Verleihen von Bohrma­schinen, Leitern oder Brech­stangen ist ein lieb gewon­nener Berliner Brauch. Ich lernte ihn kennen, als ich vor zehn Jahren in die Stadt zog und in Fried­richs­hain im früheren „Osten“ eine Einraum­woh­nung mit Innen­toi­lette mietete.  Zur Wohnung gehörte ein Keller. „Fragen Sie einfach einen Nachbarn“, hatte die Dame von der kommu­nalen Wohnungs­bau­ge­sell­schaft gesagt, als sie bemerkte, dass ihr der Schlüssel dazu fehlte. „Das ist ein anstän­diges Haus, die Nachbarn machen das schon.“

Im Treppen­haus des anstän­digen Hauses lagen Fußab­treter mit „Haxen abkratzen“ und es roch nach Mehlschwit­zen­soßen. Ich klingelte beim Nachbarn nebenan. Er hakte ohne Umschweife einen Dietrich vom holzge­schnitzten Schlüs­sel­brett und wir gingen gemeinsam in den Keller. „Der ist frei“, sagte er und zeigte auf einen Verschlag, der bis zur Decke mit Gerümpel vollge­sta­pelt war. „Danke“, sagte ich. „Kein Problem“, entgeg­nete er. Bei den Worten „kein Problem“ ließ das Vorhän­ge­schloss ein leises Klicken hören – ein kleines, sattes, zufrie­denes Geräusch, das Metall­stifte von sich geben, wenn sie sanft und fachmän­nisch in die richtige Position geschoben werden.

Mein Nachbar und ich pflegten ein nettes Verhältnis, liehen einander Bohrma­schinen und klingelten um Salz, Pfeffer, Zwiebeln, bis ihn eines Tages die Polizei verhaf­tete. Ich bedauerte das, er war einer der angenehmsten Nachbarn im Haus gewesen. Höflich, leise, hilfs­be­reit. Als ein Polizist fragte, wie diverse seiner Beute­stücke in meine Wohnung kämen, klärte ich ihn über die Berliner Tradition des Sich-Aushelfens auf. Er notierte: „Sitzmo­bi­liar, weiß, angeblich geliehen“. Dann: „Berliner Tradition des.“ „Berliner Tradition des“ krakelte er wieder durch und verab­schie­dete sich.

Als ich das nächste Mal einen Nachbarn um Hilfe bat, war ich nach Kreuzberg umgezogen. Der Treppen­auf­gang roch seltener nach Mehlschwit­zen­soße sondern meist nach ausströ­mendem Gas. Alle rochen es. Nur unsere private Hausver­wal­tung, die überflüs­sige Ausgaben scheute, behaup­tete, es gebe keinen Gasgeruch. Zwar lebten wir gefähr­lich – ein paar Jahre später sperrte die Baupo­lizei das Haus wegen eines faust­großen Lochs in einer Gaslei­tung im Keller – doch die Mieten waren billig und das Leben angenehm.

Die Gewalt über die Keller übten die „Hauswarzen“ aus. So nannte man hier die Großfa­milie, die über Genera­tionen hinweg von der Hauswarts­stelle lebte. Die Hauswarzen hatten sämtliche Keller­buchten okkupiert und mit eigenen Schlös­sern versehen. Uns störte das wenig, die Kohlen lagerten wir auf dem Balkon.

Die Hausge­mein­schaft war nett, wir halfen uns mit Leitern und Weinglä­sern aus, und wenn wir uns auf der Treppe trafen, hatten wir gleich ein Thema: „Können Sie mir mal eine Rohrzange leihen, die Leitung im Bad tropft, die Hausver­wal­tung müsste längst…“ „Natürlich, nein, diese Verwal­tung.“ Nur von den „Hauswarzen“ liehen wir nie etwas. Sie galten als kriminell.

„Krimi­nelle können sehr nett sein“, sagte ich zu Robbie von nebenan. Aber Robbie, der in der Hasen­heide Drogen verkaufte, schalt mich eine Roman­ti­kerin. Die Hauswarzen seien nicht nett, sondern kriminell, debil und gemein. Vermut­lich machten sie mit der Hausver­wal­tung gemein­same Sache.

Manchmal traf ich die Hauswarzen im Hof. Den Hauswart selbst, der sich seiner Leibes­fülle wegen ungern nach draußen schleppte. Ein rosa geklei­detes kleines Mädchen mit einer dicken Kinder­brille. Manchmal auch einen hageren Kerl, ein Karomuster ins Stoppel­haar rasiert, der mal als der Bruder, mal als der Vater des kleinen Mädchens gehandelt wurde. Er hieß Karl.

Eines Tages war meine Tür zu. Sie war zu, und sie blieb zu, es half nichts, an der Klinke zu rütteln. Der Schlüssel lag drinnen, ich stand im Treppen­haus. Ich klingelte bei Robbie. Eine Brech­stange für einen Augen­blick? Er war nicht da. Niemand war da. Nur Karl.

Ich klingelte. Karl machte auf. „Komm rein“, sagte er. Auf seinem Bett lag eine große Knarre. „Setz dich“, wies er mich an. Ich setzte mich vorsichtig neben die Knarre und Karl plauderte, während er in seinem Werkzeug­kasten kramte. „Die Hausver­wal­tung“, sagte er. Verbre­cher wären die. Sie sei schuld, dass die Haustür immer zuschwang, während er, Karl, noch im Türrahmen stand. Immer ruff uff seinen Kopp. Verbre­cher. Er fand seinen Dietrich, wir gingen nach oben. „Danke“, sagte ich, als mein Schloss aufschnappte. „Kein Problem“, sagte Karl.

Die Geschichte erzählt von einem Haus in der Kreuz­berger Wiener Straße im Jahr 2001. Kurze Zeit nach dem Auszug der Autorin wurde damals ein angeblich (Quelle Robbie) faust­großes Lochs in einer Gaslei­tung im Keller festge­stellt.

Erschienen in der Freitag - 13. April 2007