Eine Reise in den südöstlichen Teil Österreichs, wo der Wein schmeckt und ein Drittel der Bevölkerung rechtsextreme Parteien wählt.
Graz ist eine schöne Stadt. Das liegt an der Mur, die schnell wie ein Gebirgsbach durch die Stadt braust, an den Hügeln und steilen Hängen, an den alten Häusern mit den roten Dächern, deren Ziegel 500 Jahre alt sein sollen, und an den Wochenmärkten, auf denen es rote Äpfel, Kernöl, Kräuter und gewaltige Bergkäse zu kaufen gibt. Und die Marktfrauen sehen aus, als würden sie seit mindestens 500 Jahren nichts anderes tun, als ihre schönen, ungespritzten Äpfel in braunes Papier zu wickeln, mit hochzufriedenem Lächeln über den Markttisch zu reichen und dazu zu sagen: Bitteschön. Als hätten sie die Äpfel persönlich geformt und mit roter Farbe versehen und seien nun stolz, etwas so Wohlgeratenes bieten zu können. Die Österreicher sagen “lieb”, im Heimatklang “liab”, wenn sie ausdrücken wollen, dass ein ganzes Arrangement von Dingen - die schöne Stadt, die schönen Äpfel, die freundlichen Marktfrauen - eine gute, angenehme Atmosphäre verströmt. Das österreichische “lieb” ist nicht gleichbedeutend mit dem deutschen Wort, es meint etwas Umfassenderes. Und die Österreicher nehmen es gern für sich in Anspruch, dieses “lieb”. Für sich, ihr Land, ihre Nachsicht, ihre Gemütlichkeit. Es ist schwer, zuzuordnen, was gemeint ist - ob es um Menschen geht, um eine Geographie oder ein Fluidum. Es ist etwas Unscharfes, Verschwommenes, so wie der Dunst, der oft über Graz liegt.
Wenn der Dunst sich löst, ist es, als zöge jemand einen Bühnenvorhang beiseite und präsentierte mit einer Fanfare einen Höhepunkt, auf den alle lang gewartet haben. Berge. Nach drei Himmelsrichtungen. Mit grünen Faltenwürfen in den niederen Lagen, manche mit weißen Kronen. Wer Graz verstehen will, muss im Herbst hinaus in die Steiermark fahren, denn in den Oktobertagen feiern die Städter an den Weinhängen ein Fest, das länger als eine Hochzeit dauert.
Wochenende für Wochenende lebt das eigentliche Graz nicht in der Stadt, sondern in den Weinbergen, die sich bis auf die Passhöhen ziehen. Die einen cruisen mit ihren Autos über die Serpentinen, die anderen haben Rucksäcke gepackt, und alle loben ihr Land, das lieblicher als die Toskana sei, und am Ende kehren sie in die “Buschen-Schenken” ein, die Tageswirtschaften der Weinbauern, die jungen Wein ausschenken, den “Sturm”. Man setzt sich auf die Terrasse mit der besten Aussicht, lässt Wein, Sonne und Farben wirken, und der leichte Rausch, der sich bald einstellt, kommt nicht nur vom Alkohol, sondern auch von der Luft und den Gerüchen nach Erde und sattem Gras. Österreich könne man nicht ohne den Bezug der Österreicher zum Land verstehen, sagt unsere Gastgeberin, eine Berliner Bauhistorikerin, die nach Graz ausgewandert ist; Österreich sei kein urbanes Land, es gebe Wien, und Wien sei etwas Spezielles, meinte man im Rest des Landes. Ließe man Wien beiseite, blieben eine Handvoll Städte wie Graz oder Linz, die etwa so groß wie Münster sind. Das übrige Österreich, das sind Hänge und Täler mit Dörfern und Höfen. Auch in Graz spürt man das Land. Der Biomarkt, der nur Obst und Gemüse der Saison feilbietet, ist keine Mode der letzten Jahre, sondern es hat ihn immer gegeben, die Lieferanten waren immer schon Bauern aus der Region und man kaufte immer schon frische Tomaten zur Tomatenzeit. Man lebt mit den Jahreszeiten. Im Herbst trinkt man “Sturm” bei den Weinbauern, im Winter fährt man Ski und feiert anschließend auf den Bergbauden. Durchgeschwitzt, glücklich. Droben auf der Höhe, wo niemand außer den Gemsen zusieht, wirft man dann alle Hemmungen über Bord, und wenn die “Gaudi” ihren Höhepunkt erreicht, steigen die jungen Männer gern mal auf den Tisch und reißen sich ihre Hemden vom Leib und singen. Eben hat man unten in Graz eine “Bergbaude” errichtet, eine Kneipe, die eine Skihütte simuliert, um ein wenig von dem Berggefühl in die Stadt zu tragen. Die Stadt atmet das Land, die Gaudi, das Berggefühl.
Die “Gaudi” ist ein ebenso zentraler Begriff im Österreichischen wie “lieb”. Sie gehören zusammen.
Als sich die Gastgeberin einmal mit ihrer betagten Mutter zur Sylvestergaudi in eine Bergbaude wagte, staunten die beiden. Halb befremdet, halb hingezogen. Heimattümelnd sehen in den Augen der Preußen Steirer aus, die sich Kniehosen und Wams antun. Aber “lieb”, durchaus. Einer der jungen Steirer erzählte der älteren Dame von den Glücksbringern, die die Österreicher vor dem Jahreswechsel ihren Lieben bringen müssen, sonst fängt das Jahr schlecht an. Dann waren sie wieder unter sich, hakten sich ein beieinander. “Lieb”.
Das Gegenteil von “lieb” ist “schiach”. “Schiach” heißt böse, hässlich, verachtenswert. Als “schiach” gilt nicht die Wahl von vor zwei Wochen, bei der die Österreicher sich zu einem Drittel zu den rechtsextremen Parteien BZÖ und FPÖ bekannten. Obwohl es böse klingt, wenn der schneidige FPÖ-Kandidat Heinz-Christian “HC” Strache das Volk beschwört, Ausländer mit Kriminellen in eins setzt und Abschiebungen verlangt. Als “schiach” gilt, darum allzu viel Wind zu machen.
Fragt man an diesem warmen Oktobertag beim Buschenschankwirt die Gäste am Tisch, scheint niemand rechtsradikal zu denken. “Rechsradikal”, was für ein schiaches Wort. Rechtsradikalismus gebe es in Österreich überhaupt nicht, behauptet ein Student. Wirkliche, schiache Nazis gebe es nur in Deutschland. In Deutschland habe es in den dreißiger Jahren Nazis gegeben, während Österreich nur besetzt gewesen sei. Auch die Neonazis, die sich auf das Dritte Reich bezögen, seien ein deutsches Phänomen. In Österreich grenze man sich lediglich gegen Fremde ab. Aber wir wollten doch nicht zanken. Zanken sei deutsch. Oder wienerisch. Und Wien, das hätten wir ja schon mitbekommen, gehöre in ihren Augen schon nicht mehr dazu. Die Wiener sind Städter, fast böhmisch. Fremd.
“Der Inbegriff von ›schiach‹ ist die Auseinandersetzung”, sagt unsere Gastgeberin, als wir tags darauf das Weinfest in Gamlitz besuchen, dem größten Weinort der Steiermark. Die Weinkönigin Claudia Fischer und die Blumenkönigin Jasmin fahren auf prächtig geschmückten Wagen vorüber, Diademe im Haar, Trauben und Blüten ringsum. Korngarben, Äpfel und Kürbisse, die groß wie Findlinge sind. Neben einer Blasmusikkapelle, die gemächlich einher schreitet, schlendern zwei Mädchen in zerrissenen Netzstrumpfhosen mit geränderten Augen, doch statt Bierflaschen zu werfen, lächeln sie, gelangweilt, sonntäglich. “Schiach” wäre, würden sie heute, an diesem sonnigen, schönen Tag, darauf bestehen, Punk zu sein und die Konsequenzen zu ziehen. “Konsequenz” ist “schiach”. Wie der Streit und die Disharmonie. Schon die Worte passen nicht hierher, sie passen nicht zu den Menschen, nicht zur Landschaft und nicht zur Architektur. Wo Österreich ländlich ist, erlebt der reisende Städter aus Deutschland so viel heile gebaute Welt, dass es ihn schwindeln lässt. Als hätte es nie einen zweiten Weltkrieg gegeben. Nur dieses satte Land.
Im Haus gegenüber tritt ein Alter auf den Balkon und beugt sich über die üppigen Geranien, um der Blaskapelle zusehen zu können, die Blumen wuchern so dicht, dass er keinen Platz zum Abstützen der Hände findet. Er verschränkt die Arme hinter dem Rücken und hält andächtig lauschend das Gleichgewicht. “Was in Gamlitz alles wächst, kann man auf den schönen Wagen bewundern”, sagt eine Sprecherin in ein Mikrofon, die das Weinfest moderiert. Sie ist stark in den Hüften, trägt Hosen und muss sich alle paar Minuten von ihrem Podest herab beugen, um ein Glaserl “Sturm” entgegen zu nehmen und einen Scherz zu kontern. Der Scherz ist einen wichtige Institution im österreichischen Universum und ist mit der Gaudi verwandt. HC Strache, der blauäugige Publikumsliebling der Volksfeste und Tanzvergnügen beherrscht die Klaviatur des Scherzes perfekt. “Drei Bier”, sagt er, wenn er die Hand zum Führergruß reckt. Er wolle drei Bier bestellen, sonst nichts. - “Und was werden Sie tun, Herr Strache, wenn Sie die Wahl gewinnen?” fragte ein Rundfunkmoderator. “I bestell drei Bier”, entgegnete er. Dann lachte er aus vollem Hals und auch der Moderator musste grinsen. Als “schiach” gelte es, über so eine Flapserei eine Grundsatzdiskussion führen zu wollen, sagt unsere Gastgeberin. Eben als typisch deutsch. Einen Scherz müsse man mit Humor nehmen nehmen können. Der Scherz spült Bosheiten rund wie Kiesel. Oder wie die Kürbisse, die auf den Wagen leuchten.
“Ein Applaus”, ruft die Sprecherin mit den starken Hüften, “ein Applaus für die Gamlitzer Frauenbewegung auf dem Wagen Nummer acht.” Die Gamlitzer Frauenbewegung fährt auf, unter dem Banner “Nie wieder zu wenig Apfelstrudel” tummeln sich acht gutgelaunte Frauen in grünen Poloshirts, Teigballen walkend und knetend. Die Gäste applaudieren. Und lachen. “Lieb”, sagt eine Frau am “Sturm”-Ausschank zu ihrer Kundin. Die Kundin nickt.
Auf der Fahrt zurück nach Graz klingt die Blasmusik noch in den Ohren, im Radio geht es auf mehreren Sendern um Essen und Wein, und das Land sieht im Abendlicht fast unwirklich aus. Lieblich, das Wort trifft es besser als “Österreichs Toskana”. Lieblich sind die Linien, die die Hügel zeichnen, das Grün der Bergmatten und das flammende Rot der Reben, das zugleich sanft wirkt wie durch einen Schleier gesehen. Der Dunst hat sich schon wieder über die Höhen gelegt. Er besteht aus Staub der im Tal entsteht und nicht abziehen kann, weil es an Wind fehlt, der ihn hinaustragen könnte.
Erschienen in der Freitag - 16. Oktober 2008