Name und Gesicht

Wie man seine Aufgabe findet

Tritt man aus meinem Haus im Wedding und überquert eine Kreuzung, kommt man an eine türkische Bäckerei. Dort kaufe ich jeden Tag Crois­sants. Vor dem Geschäft stehen drei weiße Kunst­stoff­ti­sche mit passenden Sesseln, wie man sie im Baumarkt kaufen kann. An einem der Tische sitzt ein Mann. Er hält ein Handy an sein Ohr und während er jemandem zuzuhören scheint, späht er die Straße hinab. Er ruft: „Alina!“ Ein kleines Mädchen kommt.

Als ich etwa drei Minuten später mit meinen Crois­sants aus dem Laden komme, hält er mich an: „Kannst du ma´ kurz auf das Handy …?“ Ich will noch fragen: „Wieso?“ - da ist er schon aufge­sprungen und losge­rannt, das kleine Mädchen läuft hinter ihm. Er macht noch mal kehrt, packt mich beim Handge­lenk und drückt mir sein Handy in die Hand – „Damit ich auch wirklich darauf aufpasse“, sagt er. Zur Belohnung darf ich mir einen Kaffee bestellen. „Geht auf mich!“ Dann ist er wieder weg, und ich sitze da, ein ziemlich neues Handy in der Hand. Ich bestelle einen Kaffee.

Die drei weißen Kunst­stoff­ti­sche mit passenden Garten­ses­seln bilden so etwas wie das einzige „Straßen­café“ der Soldiner Straße, dem Boule­vards des hintersten Wedding, auf dem Flaneure ohne Amt und Beruf ihren Tag verbringen. Die Plätze vor der Bäckerei sind beliebt, obwohl der Kaffee, den man sich drinnen am Tresen holt, bitter und trotzdem fast durch­sichtig ist. Wer will, kann ihn mit Kondens­milch verdicken. Ich überlege, ob ich, um mir die Zeit zu vertreiben, eine der gespei­cherten Nummern anrufen soll, um die Freunde des wegge­lau­fenen Handy­be­sit­zers kennen zu lernen. Doch bevor ich seine Familie kennen lernen oder eine Intrige spinnen kann, ist er auch schon wieder da. Zerrt das Mädchen hinter sich her und sagt „vielen Dank“. Er habe mit der Kleinen schnell Pippi machen gehen müssen - im Haus dahinten. Zweiter Stock. Kein Grund, den schönen Platz an seinem Tisch aufzu­geben. „Keine Ursache“, sage ich und äußere mein Erstaunen über soviel Vertrauen, denn sein Telefon sei ja kein billiges, das sehe man gleich. Deshalb ja, sagt der Mann, hätte ich darauf aufge­passt.

Er heiße Hussein, stellt er sich vor, sei in seinen späten Fünfzi­gern, Frührentner und habe viel Zeit. Er kenne mich gut, sagt er und nennt meinen Namen. Ich wundere mich. Aber Hussein klärt gleich auf: Vor wenigen Tagen hätte ich mit einer anderen Frau hier vor der Bäckerei Kaffee getrunken und aus einem Tabak­beutel Zigaretten gedreht. Vier für die Frau, eine für mich. Da habe die Frau habe mich mit meinem Namen angeredet und gesagt: „Mensch echt, ich dachte du rauchst nicht mehr!“ Da habe er, Hussein, sich gleich meinen Namen gemerkt. Denn weil er so viel freie Zeit habe, sitze er an sonnigen Tagen hier vor der Bäckerei – da weiß man bald, wer in dieser Straße wohnt, und da ist es schön, wenn zu den Gesich­tern, die man schon so gut kennt, ein Name kommt. „Name - und Gesicht“, freut sich Hussein. Ich freue mich auch. Hussein nennt Adresse und Etage, wo ich lebe. Er sieht alles und merkt sich alles, so bleibt man fit.

„Alina!“, ruft Hussein. Aber Alina hat gerade einen kleinen Jungen mit einem Modell­auto getroffen, zeigt abwech­selnd auf das Auto und auf sich selbst und scheint Verhand­lungen zu führen. Für Hussein hat sie keine Zeit. Hussein erzählt: Seine Nachbarin, Alinas Mama, sei auf Hartz IV - aber immer auf Achse. Bei einer „Freiwil­li­gen­agentur“ im nahe gelegenen Nachbar­schafts­haus. Die Arbeits­losen, immer beschäf­tigt, man kenne das ja. Und weil er ja immer da sei und ein Auge auf alles habe, überlasse sie ihm ihr Töchter­chen. Hussein findet das „op-ti-mal“. Er unter­streicht es mit einer Geste. Die Allein­er­zie­hende kann ihren Aufgaben nachkommen - und auch Hussein hat eine Aufgabe. Besser könnte es nicht sein.

„Hussein!“, ruft Alina. Sie hat dem Jungen die Fernsteue­rung für sein Modell­auto abgenommen und lässt es auf der Straße cruisen. „Sehr gut!“, sagt Hussein. Jetzt ist es unter einen parkenden Lastwagen gefahren und hat dort einen Unfall gebaut. Die Räder drehen frei. Alina presst den Daumen auf den Knopf der Fernsteue­rung, die Tonlage der freidre­henden Reifen verändert sich. Alina pumpt. Hussein seufzt und erhebt sich.

„Kannst du ma´ kurz auf das Handy?“, fragt er, bereits mit einer gewissen Routine. Pflicht­be­wusst nehme ich das Telefon an mich.

Erschienen in „der Freitag - 14. September 2007