Neu im Wedding

Gesocks, Krimi­na­lität und falsche Harald Juhnke-Kenner

Wenn man in einen anderen Stadtteil zieht, ist es ein bisschen so, wie eine möblierte Wohnung zu beziehen. An allen Orten spürt man, dass das Neue schon jemandem vertraut ist, nur eben nicht einem selbst. Der Balkon von gegenüber, auf den vielleicht zwanzig Mal am Tag ein Mann heraus­tritt, um eine Zigarette zu rauchen, hängt schon viele Jahre lang an diesem Haus in der Wriezener Straße. Der Mann mag dort tausend oder eine Million Zigaretten geraucht haben. Das glänzende Kopfstein­pflaster darunter wurde von einer Million Reifen blank poliert und zuvor vermut­lich von Pferde­hufen und Besen­haaren, die die Rossäpfel zusam­men­kehrten. An der Ecke Soldiner fehlen die heraus gebro­chenen Pflas­ter­steine nicht erst seit gestern - es sind die Steine, über die der Raucher jeden Morgen steigt, wenn er den Hund Gassi führt.

Ich gehe, ein Gefühl im Bauch, wie man es an Ferien­orten hat. Es ist ein Missver­ständnis, zu meinen, ein Ferien­ort­ge­fühl entstehe angesichts einer blauen See, einer Strand­pro­me­nade oder blau gestri­chener Fischer­katen. Es genügt, sich für einen Moment am falschen Ort zu fühlen. Häuser, in die keine Erinne­rungen einge­schrieben sind, die einen bei sich und beim Alten halten, die blank sind wie eine leere Festplatte. Man räumt ihnen einen Sympa­thie­bonus ein. Der Herbst­wind, der den Staub der Straßen in der ganzen Stadt verteilt, fühlt sich im Gesicht frischer an. Ich frage mich, ob ich mehr oder weniger von dieser Gegend sehe, als der Mann, der auf dem Balkon so viele Zigaretten raucht.

Der Gegend, in die ich gezogen bin, haftet das an, was man einen Ruf nennt. Die Leute erzählen gern davon, ein wenig Stolz schwingt mit, als wenn der Ruf eine Auszeich­nung wäre. Wenn man wissen will, wie es wirklich ist, muss man sie fragen. Sie sind es, die es wissen. Wer, wenn nicht sie. “Ick sage et dir, weil ick et kenne”, sagt der Rentner in Beige mit Schif­fer­mütze, der genickt hat, als ich fragte, ob ich mich zu ihm auf die Bank setzen dürfe. “Ick sage dir, nur Gesocks und Raub und Krimi­na­lität. Ick sehe dit jeden Tag.” Eine Jüngere, Füllige, Rotge­färbte neben ihm pflichtet bei. Sie kennt es auch. Der Wind fegt uns eine Bö Laub ins Gesicht, es leuchtet gelb. Es ist die Farbe, die Kinder wählen, wenn sie mit Wachs­stiften Gold malen wollen.

Auf der Soldiner geht das Gesocks, das der beige Herr und die Jüngere, Rötliche jeden Tag sehen müssen. Männer in grauen Anzügen schlen­dern gemäch­lich. Man weiß nicht wohin. Es gibt auf der Soldiner nichts zu Shoppen und keine Cafés. Vielleicht sind sie auf dem Weg zu ihrem privaten Waffen­händler oder in die Moschee. Mädchen tragen weiße Plateaustiefel und engan­lie­gende Kleider, dazu schöne Kopfum­wick­lungen in Rosa und Glitzer, die aussehen, als klebte ihnen ein großes Ei am Hinter­kopf. Sie sagen Sätze mit “ey Alter” zu ihren Freun­dinnen, die neben ihnen gehen. Kinder sind im Dutzend unterwegs. Fünf- bis Dreizehn­jäh­rige, die Kleinen rennen den Großen hinterher. Sie spielen auf der Straße Spiele, von denen ich dachte, es gebe sie längst nicht mehr. Himmel und Hölle und Gummi­twist. Wenn einer einen Treibball oder einen Kreisel hätte, würde es mich auch nicht wundern.

Der Beige­far­bene hat sich in den Stand­by­modus versetzt, er betrachtet seinen Kiez, den er schon kennt, zufrieden, jederzeit bereit, wieder in sein Lied einzu­stimmen. Es ist Montag­nach­mittag und der Wind, der die Blätter treibt, ist das Schnellste, was sich auf der Straße bewegt. “Was sehen Sie jeden Tag?”, frage ich ihn und verzichte auf den Versuch, zu berlinern. “Jewalt und Krimi­na­lität”, sagt er bedächtig.

Er weiß Bescheid, schon weil er Harald Juhnke kannte, der - Gott-hab-ihn-selig - eine Ecke weiter wohnte. Der Juhnke, der wusste noch, wie der alte, anstän­dige Wedding war. Der Juhnke, der hat ihn damals Atze genannt, als sie auf der Straße Murmeln spielten, war ja kaum Verkehr gewesen. War ja eine Ruhe gewesen. Himmlisch. Er blinzelt in die Sonne. Lässt die Gedanken schweifen. Denkt an früher, als es besser war.

“Aber pass gut auf”, sagt er plötzlich, als sei ihm etwas Wichtiges einge­fallen. Er sieht mir gerade ins Gesicht, er muss mich warnen: vor falschen Harald-Juhnke-Kennern. Die gibt es hier, wie die Diebe, zu Hauf. Sie erzählen, sie seien mit Harald Juhnke befreundet gewesen, seien mit ihm aufge­wachsen. Obwohl es nicht stimmt. Einfach so.

Als ich über die Pflas­ter­steine steige, die an der Wriezener Ecke Soldiner heraus­ge­bro­chen sind, sehe ich den Raucher, der auf seinem Balkon steht und seine Zigarette ausdrückt. Er nickt mir zu. Ich erschrecke fast ein bisschen. So gut kennt man sich schon. Er könnte ein Dieb oder ein falscher Harald-Juhnke-Kenner sein.

Erschienen in „der Freitag“ - 3. November 2006